David Cameron sucht fieberhaft nach einem „fairen Deal“ mit seinen EU-Partnern. Beim Zugang zu Sozialleistungen für EU-Migranten zeichnet sich ein Kompromiss ab.
London. In der Fernsehspielshow „Deal Or No Deal“ versucht ein Kandidat durch Abwägen seiner Chancen, einen möglichst hohen Preis zu gewinnen – und muss dabei hoch pokern. In einer ähnlichen Position befindet sich derzeit der britische Premierminister, David Cameron: Bei Besuchen in mehreren europäischen Hauptstädten versucht er, die Stimmungslage zu den Forderungen seines Landes an die EU-Partner auszuloten. Dabei werden Signale unterschiedlichster Art ausgesendet – wohl bewusst.
So hieß es nach Gesprächen in Warschau am Donnerstag, ein tief besorgter Cameron habe gegenüber der polnischen Regierung nur mehr „einen halbherzigen Versuch“ unternommen, seine Forderung nach einer Vierjahresfrist für den Zugang zu Sozialleistungen für Migranten aus anderen EU-Staaten durchzusetzen. „Er wusste, dass das vom Tisch ist“, zitierte die „Financial Times“ einen Vertreter Polens. Ministerpräsidentin Beata Szydło sagte öffentlich: „In gewissen Bereichen sind wir uns nicht einig.“
Keine Vertragsnovellierung
Während die britische Maximalforderung bei Einschränkungen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern wohl in allen EU-Mitgliedstaaten auf Ablehnung stößt – laut einem Brüsseler Diplomaten steht es „27 gegen 1“ –, zugleich aber alle den Verbleib Großbritanniens in der Union wollen, wird zunehmend fieberhaft nach einem Kompromiss gesucht. Eine solche Möglichkeit könnte das Schaffen einer Notbremse sein, die es Großbritannien erlaubt, bei Gründen wie einer vorübergehenden Überlastung des Sozialwesens den Zugang zu erschweren oder für eine bestimmte Zeitspanne überhaupt zu versagen. Als rechtliche Absicherung könnte eine entsprechende EU-Richtlinie aus dem Jahr 2004 dienen, die Ausnahmen von der Freizügigkeit gestattet. Die Website EUobserver frohlockte gestern schon, man stünde vor einer Einigung.
Tatsächlich kann Großbritannien für sich in Anspruch nehmen, dass kein anderes Land ähnlich viele Migranten aus der EU anzieht. Allein die Zahl der Polen beträgt offiziell fast 900.000. Zudem verweisen die Briten darauf, dass Sozialleistungen in den nationalen Bereich fallen. Einschränkungen würden kaum Wirkung haben, meint Stephen Nickell, ein Regierungsberater. Die Menschen kommen wegen der Arbeit, nicht wegen der Sozialleistungen.
Eine Novellierung der Gemeinschaftsverträge haben die britischen EU-Partner ausgeschlossen. Auch als Cameron zuletzt ultimativ zumindest ein verbindliches Protokoll zum Vertrag einforderte, bekam er eine Abfuhr. „Das kann nicht dein Ernst sein“, soll der niederländische Premier, Mark Rutte, geantwortet haben.
Der Grund ist, dass der britische Premier enorm unter Druck steht, ein Ergebnis zu erzielen, das er zu Hause auch als Sieg verkaufen kann. Sein Brief nach Brüssel im November wurde von parteiinternen EU-Gegnern wegen „völligen Mangels an Ehrgeiz“ verspottet. „Er braucht etwas, um sein Gesicht zu wahren“, sagt Simon Tilford vom Centre for European Reform gegenüber der „Presse“.
Das brauchen auch die EU-Partner. Ein wenig Theaterdonner kann da nicht schaden. Zur Entscheidung soll es nun beim nächsten EU-Gipfel im Februar kommen – und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, schon beim Dezember-Gipfel Ende kommender Woche. Die britische Regierung drängt dennoch, denn Meinungsforscher warnen, dass ein Hinauszögern der Entscheidung das Nein-Lager weiter stärken könnte.
EU-Gegner knapp vorn
Die britische Volksabstimmung über den Verbleib in der EU muss jedenfalls bis Ende 2017 stattfinden. Die Gegner haben aktuell mit 52Prozent knapp die Nase vorn. Nach einer Studie des Thinktanks Chatham House sind vor allem weniger ausgebildete, ältere und in nicht gesicherten Jobs arbeitende Briten für einen EU-Austritt. Mit einem Wort: Menschen, die von ausländischen Arbeitskräften am meisten bedroht sind.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)