Das Dorf der Marine Le Pen

In der ersten Runde der Regionalwahlen war der Front National von Marine Le Pen mit fast 28 Prozent stärkste Kraft geworden.
In der ersten Runde der Regionalwahlen war der Front National von Marine Le Pen mit fast 28 Prozent stärkste Kraft geworden.(c) APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN
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Die Regionalwahlen in Frankreich gehen am Sonntag in die zweite Runde. Ein Besuch in einem Ort, der den rechtspopulistischen Front National gewählt hat.

Der Kirchturm von Pierrefitte-ès-Bois steht schief wie der Turm von Pisa. Das war seit Jahrzehnten immer die einzige Attraktion in diesem kleinen Dorf. Es liegt geografisch im Herzen Frankreichs, in einer anmutigen Hügellandschaft im Süden des Departements Loiret. Eine solche Gegend stellen sich die Pariser vor, wenn sie etwas herablassend von der France profonde, der Hinterwelt der Provinz, reden. Noch gibt es eine Grundschule, doch von Jahr zu Jahr muss damit gerechnet werden, dass sie mangels Schulkindern geschlossen wird. In diesem Dorf wohnen knapp 300 Leute, hier gibt es keine Post, keine Bank, keine Apotheke, kein Restaurant. Die Epicerie ist ein kommunales Lokal, in dem ein paar Vormittage in der Woche ein auswärtiges Ehepaar Lebensmittel verkauft.

Seit ein paar Wochen sind in einem Ferienheim mitten im Dorf Flüchtlinge aus dem Sudan untergebracht. Am vergangenen Wochenende haben hier bei den Regionalwahlen von den 246 Wahlberechtigten etwas mehr als die Hälfte (52 Prozent) für den fremdenfeindlichen Front National (FN) gestimmt, genauso viele wie im März bei den Departementswahlen, aber deutlich mehr als im Landesdurchschnitt. „Auch die Landwirte hier wählen den FN, obwohl diese Partei doch aus der EU und auch aus der PAC (der europäischen Landwirtschaftspolitik, Anm.) austreten will, von der sie hier viel Geld beziehen“, sagt Bürgermeisterin Ghislaine Beaudet.

Furcht um den Dorffrieden

Sie ist nicht sehr erbaut darüber, weil sie um den Dorffrieden fürchtet. Beaudet hängt sehr an dieser ländlichen Gemeinde, in der ihre Familie seit Generationen gelebt hat. Als Exportdirektorin hatte sie für eine Kosmetikfirma in Paris gearbeitet, seit sie in Rente ist, kann sie ihre Zeit dem lokalen Alltag und dem „administrativen Bürokram“ widmen. Beaudet ist 2014 als Parteilose Bürgermeisterin geworden. „Wie die meisten kleinen Dörfer können wir uns den Luxus einer Konkurrenz von Parteien hier nicht leisten“, sagt sie dazu. Auch dass sich ausländische Medien für Pierrefitte interessieren, kommt so gut wie nie vor. Obwohl ihr der hohe Anteil von FN-Stimmen als Anlass des Besuchs ungelegen erscheint, hat die Bürgermeisterin Kaffee und Kuchen bereit gestellt. Überrascht ist sie vom Wahlergebnis nicht. „Ich weiß sehr wohl, wer hier FN wählt. Es gibt ein paar rechtsextreme Aktivisten in der Gegend.“ Das Traurige sei der totale Mangel an politischer Diskussion. „Früher wurde hier über Politik debattiert. Jetzt sitzen alle nur zu Hause und schauen fern. Die simplistische Propaganda des FN und Marine Le Pens Vorschläge kommen ohne Widerrede an.“

Am Dorfrand vor einem großen Haus, wo sie zum Reinemachen kommt, lässt sich die etwa 40-jährige Geneviève M. auf einen Schwatz über die Wahlen ein. „Ich bin weder pro FN noch kontra FN.“ Sie und ihr Mann seien nicht wählen gegangen. „Aber meinen Sie wirklich, dass man Marine (Le Pen, Anm.)machen lässt, was sie sagt, wenn sie gewählt würde?“ Für eine Wahl des FN aus Wut über die Regierung hat sie Verständnis: „Sie kümmern sich nie um uns und machen, was sie wollen“, schimpft sie über eine nicht genau definierte Staatsmacht. Sie erwähnt die sinkenden Ertragszinsen ihrer Lebensversicherung und einen 2008 von einer Rechtsregierung gestrichenen Steuerabzug für Witwen, was sie pauschal dem sozialistischen Präsidenten François Hollande anlastet. Zu den Flüchtlingen im Ferienheim meint sie achselzuckend, diese seien ja „sehr diskret“.

Die Flüchtlinge sind in diesem Dorf genauso unsichtbar wie die FN-Wähler. In ihrem durch eine Mauer geschützten Haus haben sie Aufenthaltsräume und einen Fußballplatz. Nur sehr selten gehen sie in das zehn Kilometer entfernte Städtchen Châtillon-sur-Loire, um sich dort Zigaretten zu kaufen, weiß Ghislaine Beaudet. Die Bürgermeisterin hat ihre Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen, „keine Sekunde“ bereut.

Anfang Oktober, vor der Ankunft der Gruppe aus einem Lager bei Calais, hatte sie einen Informationsabend organisiert. „An die hundert Leute sind gekommen. Es sind schreckliche Dinge gesagt worden. Einer hat sogar gedroht: ,Wenn ich einen von denen sehe, hole ich meine Flinte!‘“ Kürzlich habe sie diesen Nachbarn wieder getroffen, „und er hat mir gesagt, was die Sudanesen nebenan kochen, das rieche doch fantastisch gut, er würde sich gern zum Essen einladen lassen.“ Zwölf Freiwillige aus Pierrefitte und aus der Nähe geben ihnen Französischunterricht. Andere haben spontan Kleider gebracht.

Demnächst werden die Flüchtlinge in ein anderes Zentrum verlegt. Beaudet plant, erneut ihre Zustimmung zu geben, wenn die Präfektur anfragt, ob Pierrefitte wieder Migranten oder Flüchtlinge aufnehmen könne. Sie weiß, dass das vor allem mit den heimlichen Sympathisanten des fremdenfeindlichen FN Streit geben kann. Auf das Risiko hin, dass deswegen der Segen im Dorf so schief hängt wie der Kirchturm, hält sie an ihrer Linie fest.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2015)

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