Plötzlich kennt jeder die Regierung in Athen, bangt mit Paris und streitet über Merkel.
Wien. Die Kritik, der Unmut, die Angst und vor allem die Verunsicherung in großen Teilen der Bevölkerung überdeckt ein neues Phänomen. Im Krisenjahr 2015 ist der Nukleus einer europäischen Öffentlichkeit entstanden, eine grenzüberschreitende Aufmerksamkeit. Und das ist nicht nur ein Ereignis der Medien. Plötzlich kennt jeder den Namen des griechischen Finanzministers, diskutiert leidenschaftlich über die deutsche Flüchtlingspolitik und wendet sich von jenen Tagen ab, in denen allein die Innenpolitik im Rampenlicht stand. Längst haben das auch die politischen Akteure erkannt. Selbst Bundeskanzler Werner Faymann, der lange zögerte, die internationale Bühne zu betreten, organisiert viel beachtete Treffen zur Lösung des Flüchtlingsproblems in Brüssel.
Die Veränderungen, die Einbrüche in das gewohnte Leben, haben die Sensibilität erhöht. „Wenn ich die entstandene europäische Öffentlichkeit in der Frage TTIP oder in der Frage Griechenland ansehe, bemerke ich eine neue Dynamik, die Hoffnung macht“, sagt der langjährige grüne Europaabgeordnete und Publizist Johannes Voggenhuber. Die wachsende Unzufriedenheit mit der EU, die Vorbehalte gegenüber Großmächten sind allerdings nur die eine Seite der Medaille. Die Erkenntnis, dass die nationale Politik mit den aktuellen Herausforderungen nicht mehr zurande kommt, ist die andere. Gefragt, ob die Flüchtlingskrise mit Maßnahmen des Nationalstaates oder auf Ebene der Europäischen Union bewältigt werden kann, antwortet eine Mehrheit der Österreicher (54 Prozent) mit der EU. Nur 34 Prozent setzen auf Lösungen der heimischen Politik. Die Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) belegt, dass der Bevölkerung die transnationale Tragweite und die beschränkten Möglichkeiten ihres eigenen Staates durchaus bewusst sind.
Die Euro- wie die Flüchtlingskrise haben große Teile der Bevölkerung aus ihrem Traum von einem abgeschirmten Wohlstandsdasein erweckt. Zu groß sind die grenzüberschreitenden Einflüsse geworden. Das betrifft internationale Geldflüsse ebenso wie die Migration, aber auch das Zusammenspiel der Mächte. Gegen das Investitions- und Handelsabkommen zwischen der EU und den USA gingen in Berlin 150.000 Menschen auf die Straße. Das Beispiel zeigt, dass die neue Sensibilität primär negativ gepolt ist. „Wir wissen deshalb auch nicht, wie das ausgeht“, warnt ÖGfE-Generalsekretär Paul Schmidt. Er sieht Chancen für Organisationen wie die EU, allerdings nur dann, wenn sie es schafften, der Bevölkerung ausreichend Lösungen anzubieten.
Angriff auf unsere Werte
Die Erkenntnis, dass alle Europäer in einem Boot sitzen, wuchs Ende des Jahres erneut durch die Anschläge in Paris. Plötzlich gab es in fast allen EU-Hauptstädten solidarische Kundgebungen und einen neuen Internet-Hype: „Je suis Paris“. Viele erkannten, dass nicht allein Frankreich angegriffen wurde, sondern europäische Werte und ein europäischer Lebensstil.
Die erwachte gemeinsame Öffentlichkeit ist als Nebenprodukt der Krisen entstanden, sie ist nicht produziert worden, wie das in der Vergangenheit mehrfach versucht wurde. Bisher galten Sprach- und Kulturbarrieren in Europa als unüberwindbar. Grenzüberschreitende Medienprojekte wie etwa „The European“ des Verlegers Robert Maxwell scheiterten. Der paneuropäische Fernsehsender „Euronews“ ist trotz massiver EU-Subventionen nie abgehoben. Nun kreiert eine junge Generation, die deutlich stärker über nationale Grenzen hinweg denkt, einen neuen europäischen Öffentlichkeitsraum. In dem wird alles hinterfragt, gnadenlos auf Unrecht und mögliche Verzerrungen geprüft.
Freilich: Das Phänomen ist nicht ohne Gegenbewegung. Während die einen den kommunikativen Schulterschluss vollziehen, propagiert die Staatsspitze in Ungarn den Nationalismus, will sich Großbritanniens Führung von Zuwanderern und vom Einfluss der europäischen Partner abschotten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)