Leopold Figl: Ein fester Glaube in bitterster Not

Leopold Figl
Leopold Figl(c) Bundespressedienst
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Die legendäre Weihnachtsansprache 1945 als „Recycling“ im Rundfunk-Studio: Die merkwürdige Entstehungsgeschichte einer österreichischen Nachkriegslegende.

Wien, im Dezember 1945. Im Bundeskanzleramt am Ballhausplatz schreiben die Beamten in diesem Winter ihre ersten Akten mit klammen Fingern auf halb kaputten Schreibmaschinen. Der rechte Flügel des Barockpalais ist seit dem 10. September 1944 durch Bomben völlig zerstört. Dort, wo später bis zum Jahr 2000 die Regierungschefs amtieren werden, herrscht Einsturzgefahr, die Räumlichkeiten sind gesperrt. Wenn es finster wird, flitzen gleich neben den provisorischen Büros des neuen Kanzlers Leopold Figl Ratten über die Trümmer. Aber es gibt immerhin schon wieder eine Heizung. In anderen Ministerien werden um diese Zeit alte Büromöbel zerhackt und verheizt.

Apropos: In Kärnten müssen alle einsatzfähigen Männer, auch die noch nicht registrierten ehemaligen Nationalsozialisten, zum Holzfällen ausrücken. Die Brennholz-Aktion wird ein voller Erfolg – jedem Haushalt können fünf Raummeter Holz zugeteilt werden. Für Wien verfügen die alliierten Besatzungsmächte, dass alles spärlich einlangende Brennmaterial, „ungeachtet seiner Sorte und Herkunft“, zentral zu erfassen und gleichmäßig unter der Stadtbevölkerung aufzuteilen sei. Gleichzeitig ordnen die Alliierten eine obligatorische Impfung aller Wiener gegen Typhus an, da Seuchengefahr bestehe. Die Verantwortung für die Schneeräumung im herrschenden Winter dagegen vertrauten die Besatzungsmächte der Stadt Wien an, „die dazu durchaus in der Lage ist“.

Die Situation auf dem Ernährungssektor ist immer noch prekär. So kündigt der jüngste „Lebensmittelaufruf“ an, dass es wieder einmal kein Fleisch geben würde. Statt der auf den Karten vorgesehenen zweihundert Gramm Fleisch für die Normalverbraucher gibt es lediglich 150 Gramm Käse und 50 Gramm Trocken-Ei. Doch bald schon sollten die Nahrungsmittel-Lieferungen aus den USA verdreifacht werden, liest man in diesen trüben Tagen.

Noch vor dem Winter hat man über mehrere bombengeschädigte Repräsentationsbauten in der Innenstadt Notdächer gebaut, damit keine weiteren Schäden eintreten können. Die Wiener betrachten immer wieder im Vorbeigehen, wie es mit dem Kanzleramt, mit dem Burgtheater, mit der geliebten Staatsoper steht, die nur noch einer ausgeglühten Ruine gleicht. Die Situation ist zum Verzweifeln.

Der 43-jährige Agraringenieur Leopold Figl ist der Mann der Stunde. Der schmächtige Tullnerfelder Bauernsohn, den sie im Konzentrationslager so schwer misshandelt hatten, weil er ein österreichischer Patriot war, ist erst seit wenigen Tagen im Amt.

Staatskanzler Karl Renner hat ihm nach den Novemberwahlen – den ersten freien seit 1930 – das Kanzleramt übergeben. Dem Sinn der Demokratie entsprechend, kam dafür nur der Obmann der stimmenstärksten Fraktion in Frage, also Diplomingenieur Figl. Obwohl seine Volkspartei allein hätte regieren können, betonte Figl gleich nach der Wahl und dem etwas überraschenden Wahlsieg, es bestehe „nicht die Absicht, eine reine Mehrheitsregierung aufzurichten“, vielmehr „wird man an dem Gedanken der Zusammenarbeit der Parteien, der sich in den sieben Monaten seit der Befreiung überaus bewährt hat, weiter festhalten“. So kam es auch. Die Sozialisten wurden in die Koalition eingebunden, die Kommunisten bekamen einen Regierungssitz.

Am 24. Dezember nachmittags baut man für den Bundeskanzler ein Mikrofon auf. Seine Radioansprache sollte zur meistzitierten jener Zeit – und zugleich eine Legende werden. Drei Sätze nur, aber sie gehören zu den großen Erzählungen dieses Landes. Denn die Schlichtheit und Kürze des Tondokuments lassen die bittere Not und die Ärmlichkeit der Menschen erahnen. Und trotzdem spricht der „Poldl von Österreich“ den Landsleuten Mut zu. Das ist nicht gespielt, nicht gestellt. Figl glaubte wirklich daran: Es kann nur besser werden. Wenn alle zusammenhalten.

Es gibt keine Originalaufnahme aus diesem „Jahr null“, weil man Figls Rede gar nicht aufgezeichnet hat. Der große Journalist und Zeithistoriker Ernst Trost, der heuer starb, hat vor vielen Jahren die seltsame Geschichte dieser Rede recherchiert. Eine Fälschung womöglich, so wie viele Fälschungen in der turbulenten Geschichte unseres Landes? Ja – und nein.

Im Frühjahr 1965 stand der junge Journalist Hans Magenschab vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Zum 20. Jahrestag des Kriegsendes sollte er, als Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Verbände, auf dem Stephansplatz eine effektvolle Show in Szene setzen. Mit Licht und Ton, mit dem Heulen der alliierten Bomber, am Schluss die Radiorede Leopold Figls vom Heiligen Abend 1945. Am besten unterlegt mit der Melodie „Stille Nacht“ . . .

Das Tondokument gab es nicht. Aber Freund Ernst Wolfram Marboe wusste Rat. Wozu war er im Radio beschäftigt und noch dazu mit dem todkranken Leopold Figl verwandt? In einer Festschrift zu Figls 60. Geburtstag 1962 wurde man fündig. Dort ist eine Passage als „Weihnachtsbotschaft“ ausgewiesen, also stellte man daraus eine ähnlich kurze Rede zusammen. Auch die Regierungserklärung war nützlich. Sie war am 22. Dezember 1945 in den Zeitungen nachzulesen: „In wenigen Tagen feiern wir Weihnachten. Weihnachten ist für uns ein Hochfest der Familie. Es wird heuer leider kein Weihnachten sein, so wie wir es gerne haben möchten. Auf den Christbäumen, wenn wir welche haben, wird ein schönes Päckchen voll Sorgen hängen.“ Dann folgt ein Appell, am Aufbau eines neuen, demokratischen Österreich mitzuarbeiten.

Der Zufall wollte es, dass just Anfang April 1965 der krebskranke Figl im niederösterreichischen Landesstudio in der Argentinierstraße seine Abschiedsrede als Landeshauptmann aufs Tonband sprach. Nur noch wenige Wochen waren ihm beschieden. Wohl im Bewusstsein, dass dies sein endgültiger Abschied sein werde, und seinem Großneffen zuliebe, las Figl mit schwacher brüchiger, aber unverkennbarer Stimme die paar Sätze, die neben seinem Jubelruf „Österreich ist frei!“ wohl zur eindrücklichsten Erinnerung an diesen Staatsmann wurden.

Ende April 1965 fand am abendlichen Stephansplatz die eindrucksvolle Feier statt. In der ersten Reihe saß, in eine Wolldecke gehüllt, Leopold Figl. Er lauschte seiner Rede über den Lautsprecher – gerührt und traurig zugleich. Am 9. Mai ist dieser große kleine Mann an den Verletzungen gestorben, die er während der nationalsozialistischen Diktatur erlitten hatte.

Die nächste Folge der Serie „Die Welt bis gestern“ erscheint wegen der Feiertage erst am 28. Dezember.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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