Libyen: Von dem Versuch, einen kollabierten Staat ganz neu aufzurichten

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LIBYA-CONFLICT-POLITICS-PARLIAMENTS(c) APA/AFP/MAHMUD TURKIA (MAHMUD TURKIA)
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Diese Woche wurde die Gründung einer neuen Einheitsregierung vereinbart. Auch für Europa ist das wichtig.

Auch, wenn es abseits der internationalen Aufmerksamkeit stattgefunden hat: Vielleicht ist jenes Abkommen, das die libyschen Konfliktparteien diese Woche in der marokkanischen Küstenstadt Skhirat unterzeichnet haben, für Europa und seine Zukunft weit wichtiger als die Ergebnisse des EU-Gipfeltreffens am selben Tag.

Im Wesentlichen haben Vertreter der zwei großen rivalisierenden Machtzentren im Westen und Osten Libyens am Donnerstag vereinbart, dass ein neunköpfiger Präsidentenrat, der Regionen repräsentiert, eine Regierung bildet. Das in Ostlibyen sitzende Abgeordnetenhaus soll die entscheidende Legislative bilden, ein Staatsrat eine beratende Kammer. In einem Monat soll die Einheitsregierung stehen und deren Legitimität durch eine UN-Resolution bestätigt werden.

Zu viele Köche. Eines der auch völkerrechtlich relevanten Hauptprobleme ist nämlich, dass niemand genau weiß, wer in Libyen nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi 2011 überhaupt noch wen repräsentiert. Die simpelste Lesart ist, dass zwei Regierungen das Land vertreten wollen. Die eine sitzt in der „klassischen“ Hauptstadt, Tripolis, und wird als eher islamistisch beschrieben; die andere amtiert im Osten in Tobruk nahe der Grenze zu Ägypten und ist international anerkannt. Beide werden von lokalen Allianzen und Milizen eher taktisch denn ideologisch unterstützt. Und an den Frontlinien der Rivalen hat sich der IS eingenistet und breitet sich in dem Machtvakuum aus.

Genau von diesem, der sich speziell in Gaddafis Heimatstadt, Sirte, eingenistet hat, geht in Libyen immer größere Gefahr aus. Es wird gemunkelt, dass die IS-Führung nach Libyen ziehen könnte, sollte es im syrischen Rakka für sie eng werden. Außerdem ist Libyen weiter ein wichtiger, unkontrollierter Transitpunkt für die Massenflucht nach Europa. Der deutsche Diplomat Martin Kobler, der als UN-Vermittler tätig und maßgeblich an der libyschen Einigung in Marokko beteiligt war, hat das Ganze aus europäischer Sicht also nicht ganz uneigennützig getan.

Wenn der Vertrag also hält, hat Libyen wieder eine Zentralregierung. Diese könnte die Öleinnahmen verwalten, wäre ein internationaler Ansprechpartner und könnte eine Armee aufstellen, mit der alle gemeinsam gegen den IS vorgehen. Sie könnte ausländische Militärhilfe beantragen. Aber von all dem ist man noch weit entfernt. Bestenfalls schafft der Vertrag ein Moment für Dialog, durch den später Konsens erzielt wird. Schlimmstenfalls ist er aber ein Schuss nach hinten, der nicht zwei, sondern drei große Machtzentren mit sich bringen könnte.

Ein Staat? Ein Chaos! Leider ist Libyens Wirklichkeit komplizierter als oben beschrieben. Libyen ist ein unübersichtliches Gewebe lokaler Machtzentren, Gruppen und Milizen, das selbst einzelne Stämme untergräbt. Staatliche Institutionen gibt es nur auf dem Papier. Jedes der Machtzentren kocht sein Süppchen und schließt sich taktisch einmal diesem oder jenem Bündnis an. „Auf allen Seiten gibt es noch eine Minderheit, die das Friedensabkommen und den Prozess als Ganzes torpedieren will“, sagte Deutschlands Außenminister, Walter Steinmeier, nach der Unterzeichnung. Die Sicherheitslage in Tripolis bleibe fragil. Und das ist noch harmlos ausgedrückt.

Unterschrieben wurde der Vertrag übrigens von den Vizepräsidenten der Parlamente. Die Vorsitzenden machen nämlich nicht mit und wollen ein eigenes Abkommen zurechtzimmern, vorgeblich ohne ausländische Einmischung. Daher wurde der von den UN gesponserte Marokko-Pakt auch noch von keinem der Parlamente abgesegnet, nur ein Teil der Abgeordneten hat ihn unterfertigt. Der Vertrag ist also eine Baustelle, eine Art Unterschriftenliste, die höchstens noch wachsen wird. Zuletzt lehnte der Präsident des Tobruker Parlaments, Akila Saleh, ihn auch noch offen ab: Er sei verfassungswidrig und verstoße gegen die nationale Würde.

HINTERGRUND

Seit dem Bürgerkrieg in Libyen 2011, in den sich auch fremde Mächte wie Frankreich, Großbritannien und arabische Staaten eingemengt haben und der zum Tod von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi (seit 1969) geführt hat, ist das Land am Südufer des Mittelmeers in zwei große und viele kleine Herrschaftsgebiete und lokale „Fürstentümer“ zerfallen. Auch der Islamische Staat macht sich breit. Das Chaos an seiner Südflanke wird für Europa immer heikler, samt Flüchtlingsströmen und Terrorgefahr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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