Wiener Amore: Ist 2015 das neue 1993?

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Wanda(c) APA/EPA/MARC MUELLER
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1993 war Wien dank Helmut Lang und DJ-Klängen offiziell „cool“. Ist es das nun wieder? Deutsche Zeitungen und britische Trendmacher schwärmen jedenfalls vom neuen Wien. Der Versuch, den externen Enthusiasmus zu verstehen.

Eigentlich müsste hier der Text eines deutschen Journalistenkollegen stehen. Oder eines britischen. Jedenfalls ein Text, der uns den Enthusiasmus erklärt, mit dem Wien gerade überschüttet wird. So hieß es unlängst im Magazin der deutschen „Zeit“: „Wir sind in die Stadt gereist, weil dort etwas passiert, etwas Unerwartetes. Freunde, denen man vorab von dieser Reise erzählt, sagen sehnsuchtsvoll, sie wollten mit. Und die Berliner, Hamburger oder Münchner, die schon da waren, erzählen, dass Wien die einzige Stadt sei, in die sie ohne guten Grund ziehen würden, ohne neuen Job, ohne neue Liebe. Einfach nur, weil es dort so schön sei.“

Klingt nett, oder? Tatsächlich so nett, dass man es gern glauben würde. Wenn man sich zu diesem Zweck, die Argumente pro Begeisterung näher ansieht, so lassen sich diese entlang eines bipolaren Begriffspärchens sortieren: spannend und entspannt. „Entspannt“ ist dabei das Etikett für alte Wiener Tugenden: das relativ günstige Wohnen, günstiges Essengehen, die Ruhe, das Stadtgrün. Denn obwohl Wien zuletzt härter, teurer und voller geworden ist, sind diese Wachstumsschmerzen einer Großstadt von außen betrachtet noch immer eher nur ein Zwicken. Wobei man mit „entspannt“ auch noch etwas anderes meint: die Absenz von allzu vielen Verboten im öffentlichen Raum, was vor allem Besucher aus dem angloamerikanischen Raum teilweise entzückt. Für Tyler Brûlé, den Gründer des britischen design- und reiseaffinen „Monocle“-Magazins, war etwa genau das mit ein Grund, warum Wien heuer im „Monocle“-Städteranking auf Platz zwei vorgerückt ist.

Jetzt kann man darüber streiten, ob es eine Stadt auszeichnet, dass man in ihren Lokalen noch rauchen darf. Aber offenbar wirkt es lässig, wenn in Ausgehlokalen das partielle Rauchverbot derart umgesetzt wird, dass es eben keine Aschenbecher gibt und man daher nonchalant auf den Boden ascht.

Womit wir bei „spannend“ wären. Denn abgesehen von politischen Ereignissen (Flüchtlingsdebatte, FPÖ-Wahlerfolg) und offiziellen Events (Song Contest plus Conchita-Hype) ist es vor allem das Wiener Nacht- und Popkulturleben, das derzeit deutsche Feuilletonseiten füllt – mit Bands wie Wanda und Bilderbuch oder Autorinnen wie Stefanie Sargnagel, der „lustigsten Frau der Stadt“ (Copyright: „Der Falter“).

„Lokalkolorit bis zum Abwinken“

Da drängt sich ein Vergleich mit einem anderen Jahr auf, als Wien sehr Zeitgeist war: 1993. Es war die Ära von Modemacher Helmut Lang, dessen schmale Silhouetten und Tech-Materialen die Männermode international beeinflussten. Und es waren die Jahre des „Vienna Sound“, dem das britischen Musikmagazin „The Wire“ sogar ein Cover widmete: Hier waren vor allem die Duos Patrick Pulsinger und Erdem Tunakan sowie Peter Kruder und Richard Dorfmeister stilprägend. Damals war Wien sozusagen offiziell „cool“

Ist 2015 insofern also das neue 1993? „Es ist ähnlich, aber nicht dasselbe“, sagt Patrick Pulsinger. Ähnlich deshalb, weil es auch derzeit viele gute Bands gebe, „von denen ein paar von den Medien herausgepickt werden, um einen Vienna Sound zu definieren“ – leider derzeit unter Auslassung vieler anderer, wie Pulsinger kritisch anmerkt. Anders allerdings sei es, weil die stilistische Ausrichtung diametral ist: Während das Aufregende Anfang der Neunziger war, dass Wien so Unwienerisch klingen und aussehen kann – nämlich so, als kämen die Musik und die Mode aus New York –, wird derzeit gerade das Wienerische umarmt. Bilderbuch huldigt der Falco-Lyrik, Wanda sind die gelungene Fortsetzung des Austropop, Stefanie Sargnagel lässt sich am liebsten in Wiener Beiseln fotografieren, und auch in der Mode punktet Steiermark-Import Lena Hoschek mit Dirndl-Optik.

„Lokalkolorit bis zum Abwinken“, nennt das Pulsinger. Was er sehr verständlich findet. „Ich glaube, es gab eine große Sehnsucht, mit dem Bier in der Hand zu deutschen Texten mitzugrölen.“ Zu Wanda-Refrains („Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore“) geht das bekanntlich wunderbar. Da heutzutage alles global ausgerichtet sei, sei nun das Lokale interessant, sagt Pulsinger. Soll heißen: „Edgy“ und leicht unterkühlt wie 1993 kann man inzwischen überall sein. Insofern kultiviert man lieber die Wiener Mischung: ist ein bisschen Strizzi, etwas „räudig“, zelebriert den Schmäh. Und das macht man ziemlich unverkrampft und direkt: War 1993 Personenkult eher unerwünscht – auf der Bühne waren bei Auftritten teilweise nur Schattenumrisse zu sehen –, herrscht heute eine professionelle „Hallo, hier bin ich“-Attitüde. In dem Punkt unterscheidet sich Wien allerdings nicht groß vom Rest der Welt.

Die Macht der Überraschung

Übrigens: Die viel zitierte „Szene“, in der alle irgendwie einander kennen, gibt es Wien auch 2015, ebenso Kooperationen zwischen den Branchen. Aber ganz so wild gemischt wie in den Neunzigern, als Mode, Musik und bildende Kunst gemeinsam feierten und Projekte schmiedeten, geht es nicht mehr zu. Auch eine derart zentrale Figur wie Lang, bei dem viele Fäden zusammenliefen, fehlt.

Aber trotzdem sollte man hoffen, dass viel von 1993 in 2015 steckt: Schließlich war der Wien-Hype für viele Kreative kein schlechtes Geschäft. Es sei an der Zeit, endlich die wirtschaftliche Kraft der U-Kultur wertzuschätzen, sagt deshalb Pulsinger: „Solange das Scheinwerferlicht an ist, wird gejubelt, danach zählt wieder nur die Hochkultur.“ Wobei Wien seinen Status als Sehnsuchtsort aber ironischerweise vermutlich genau auch diesem Umstand verdankt. Weil da draußen noch immer ein überholtes Image existiert, kann Wien eben eins gut: überraschen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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