Die Schule des Mitgefühls

ISRAEL HAIFA BABISM
ISRAEL HAIFA BABISM(c) EPA (OLIVER WEIKEN)
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Das arabisch-jüdische Kulturzentrum Beit Hagefen vermittelt Respekt für das Leid der „anderen“.

Haifa. In Israels Küstenstadt Haifa funktioniert die jüdische-arabische Koexistenz, sogar jetzt, wo neue Gewalt das Misstrauen zwischen den beiden Völkern wieder wachsen lässt. Von Anfang an war Haifa eine Ausnahme. Die arabische Führung hieß die Juden willkommen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die Stadt kamen, und umgekehrt drängten die Juden die Araber dazu, nicht zu fliehen, als die Hagana, die jüdische Armee, während des Unabhängigkeitskrieges 1948 die Stadt eroberte. „Mein Vater hängte damals Plakate auf mit dem Appell: Bleibt hier!“, berichtet Assaf Ron, Direktor des arabisch-jüdischen Kulturzentrums Beit Hagefen.

Viele sind trotzdem aus Haifa weggegangen, denn nicht nur Israels Regierung schürte die Vertreibung der Araber, sondern auch die arabischen Nachbarn drängten zur Flucht aus dem Judenstaat. Nur noch 30.000 Araber leben heute in der Stadt und 280.000 Juden. Ein Kreuz, ein Davidstern und der muslimische Halbmond am Beit Hagefen symbolisieren die Koexistenz der drei Religionen. „Wer damals wegging, durfte nicht zurückkommen“, berichtet Ron über das dunkelste Kapitel in der Geschichte der beiden Völker in Haifa. Die Narrative des anderen zu hören und „Respekt für sein Leid zu empfinden“ ist das Kernmotiv des arabisch-jüdischen Kulturzentrums.

Einen „gemeinsamen, gleichberechtigten Raum“ will das 1963 gegründete Beit Hagefen schaffen, ungeachtet „kultureller, ethnischer und religiöser Identitäten“. Gerade werden die Arbeiten des arabischen Malers und Bildhauers Abed Abdi wieder zusammengeräumt, der bis vor wenigen Tagen im Beit Hagefen ausstellte. Abdi ist 1942 in Haifa zur Welt gekommen und floh sechsjährig zusammen mit seiner Mutter und Geschwistern während des Krieges nach Syrien. Weil der Vater in Israel blieb, konnte Abdi drei Jahre später im Zuge der Familienzusammenführung nach Haifa zurückkehren.

Im Beit Hagefen sind Kunst und Kultur zentrale Mittel für das Lernen vom und über den anderen. Vor dem Zentrum steht ein hölzerner Turm, der den Titel „Turm der Gedichte“ trägt – ein Wortspiel, bei dem nur ein Buchstabe des hebräischen „Wachturms“ wegfällt. Jüdische und arabische Dichter lesen selbst ihre Stücke, die per Lautsprecher vom Turm aus über die Straße klingen.

Molière auf Arabisch

Finanziert wird das Zentrum zur Hälfte über die Stadtverwaltung und zur anderen mit Unterstützung des Kulturministeriums und ausländischer Spender, allen voran der Schweizer Nichtregierungsorganisation „Koexistenz“ in Lausanne. Es findet eine „positive Diskriminierung“ statt, gibt der Direktor zu. Die arabische Kultur wird bevorzugt. So sind die Vorführungen der professionellen Beit-Hagefen-Theatergruppe, die Klassiker wie Molière, Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ und zeitgenössische Stücke in Szene setzt, allesamt auf Arabisch, und in der Bibliothek findet man fast nur arabische Literatur. Bei den Projekten und den Kunstausstellungen wird hingegen auf mehr Ausgewogenheit geachtet. Die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem schickte eine Fotoserie über albanische Muslime, die während des Zweiten Weltkrieges Juden retteten, nach Haifa. „Albanien“, so berichtet Ron, „ist das einzige Land, in dem nach dem Krieg mehr Juden lebten als vorher.“ Es gibt auch eine positive gemeinsame Geschichte, die sich zu erinnern lohnt.

Gemischter Club für 300 Jugendliche

Arabischkurse, gemischte Seminare für junge Frauen und der Jugendclub gehören zu den zahlreichen ständigen Angeboten im Haifaer Kulturzentrum. „Wir haben vor drei Jahren den Club mit nur zwölf Jugendlichen eröffnet“, sagt Ron. „Heute kommen jede Woche über 300 junge Juden und Araber in den Club“, trotz der Krise und im Schatten der Gewaltwelle. Die jungen Leute reden miteinander und engagieren sich in sozialen Projekten, mal im Umweltschutz, mal helfen sie bei der Verteilung von Nahrungsmittelpaketen an bedürftige Bürger. Gleich nach den Herbstferien, nach den ersten Messerattacken in Jerusalem, hätten „ein paar besorgte Eltern angerufen“, bevor sie ihre Kinder wieder zum Club schickten. „Sie fürchteten nicht, dass im Beit Hagefen etwas passieren könnte, sondern auf dem Weg hierher.“ Das Kulturzentrum liegt inmitten von Wadi Nisnas, ein ökonomisch eher schwaches, rein arabisches Wohnviertel. Am Ende seien trotzdem alle Jugendlichen erschienen.

„Araber kennen uns besser als wir sie“

Bei Abendveranstaltungen und im Verlauf gemeinsamer Touren durch Haifa erzählen die Teilnehmer unter jeweils vereinbarten Überschriften ihre so unterschiedlichen Geschichten. Das Thema „Meer“ weckt bei vielen alten Juden die Assoziation an ihre Ankunft im Gelobten Land, während die älteren Araber oft zuerst an die Flucht ihrer Familien denken. Jeder soll sagen können, was er denkt, auch über Politik, aber „wichtiger ist es, erst einmal die Kultur des anderen kennenzulernen“, meint Ron. Vor allem bei der jüdischen Bevölkerung bestehe hier großer Nachholbedarf.

„Die Araber kennen uns viel besser als wir sie.“ Ron, der sich selbst als „stolzer Zionist“ bezeichnet, engagiert sich für mehr Pluralismus und Gleichberechtigung. „Wenn wir die Narrative des anderen verstehen, kommen wir uns automatisch näher.“ Dann sei, so meint er, „trotz der politischen Differenzen, ein friedliches Miteinander“ möglich.

AUF EINEN BLICK

Haifa ist mit rund 310.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Israels nach Jerusalem und Tel Aviv. Juden und Araber leben in der Küstenstadt verhältnismäßig friedlich zusammen. Das war auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts so. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 nach dem Abzug der britischen Mandatsmacht flohen allerdings 50.000 Araber – vor der israelischen Armee und teils auch angetrieben durch arabische Nachbarstaaten. Nach der „Nakba“ (Vertreibung) blieben nur 15.000 Araber in Haifa. Heute sind es wieder 30.000. Die Küstenstadt gilt als tolerant. Der Einfluss der Religion ist eingehegt. So fahren in Haifa auch am Sabbat öffentliche Verkehrsmittel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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