Wer verliert, kann auch finden

FOTOPROBE: 'LOST AND FOUND'
FOTOPROBE: 'LOST AND FOUND'APA/HERBERT NEUBAUER
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Yael Ronen inszenierte im Volkstheater die Uraufführung von "Lost and Found". Ihr Stück hat Witz und sagt mehr über Flüchtlingskrisen aus als die meiste moralische Überheblichkeit.

Kisten, Kisten, Kisten. Hunderte Kartons, zu hohen Türmen geschlichtet, stehen auf der Bühne des Volkstheaters. Offenbar wird eine Wohnung geräumt, denn bis auf Mikrofonständer, ein paar Klappstühle und Kisten als improvisierten Tischen ist der Raum leer. Ein Mensch ist gestorben, auch sonst sind Verluste zu beklagen. In Yael Ronens brandaktuellem, am Freitag in Wien uraufgeführten, gemeinsam mit dem Ensemble erarbeiteten Stück „Lost and Found“ befinden sich Menschen in einschneidenden Veränderungen.

Die Wohnung signalisiert Übergänge. Ein Transitraum. Auf dem Turm aus Kisten leuchtet eine Schrift auf: „Lost“. Der erste, längere Teil, erzählt davon. Später, im zweiten Teil der 90 Minuten langen Aufführung, wird „Found“ aufscheinen. Man hat Konflikte ausgetragen, alle sind von einem fremden Gast überrascht worden, einem Flüchtling aus dem Irak, haben gelernt: Wer verliert, kann auch finden Das Leben sieht dann ein bisschen freundlicher aus.

Am Anfang aber herrscht emotionelles Chaos. Der aus dem Irak stammende, in Wien assimilierte Vater von Maryam (Birgit Stöger) und Elias Sabry (Sebastian Klein) ist gestorben. Die Mutter ist längst tot. Ein Begräbnis ist zu organisieren, und die Auflösung des Haushalts aus der Kindheit dieser Geschwister. Bei der resoluten älteren Schwester liegt die Last, der aus Berlin angereiste Bruder mit seinen künstlerischen Ambitionen ist gewissermaßen ein Kind geblieben. Eine Patchwork-Familie trifft sich, um mit der Situation fertig zu werden: Maryams noch immer Ansprüche stellender Ex-Mann Jochen (Jan Thümer), mit dem sie einen kleinen Sohn hat, ihr schwuler Freund Schnute (Knut Berger), mit dem sie ein zweites Kind plant, und Camille (Anja Herden), die praktisch begabte, offenbar beruflich erfolgreiche Ex-Freundin von Elias. Sie kommt überraschend angereist, aber zu spät für das Begräbnis.

Anfangs steht dieses Quintett gemeinsam an der Rampe, spricht in gewitzten Raps über seine Verluste. Jeder und jede erhält auch ein Solo an Klagen, die Kisten dienen als Projektionsfläche für Format füllende, gequälte Gesichter, für Luxusleid einer Wohlstandsgesellschaft, das vor allem das Zwischenmenschliche betrifft. Die Probleme dieser Beziehungskisten scheinen so hoch wie die Pappkartons. Lauter Pattstellungen. Dann aber kommt Bewegung ins Spiel. Ein Onkel hat angerufen, er bietet an, das Begräbnis für seinen Bruder zu zahlen, wenn es nach muslimischem Ritus erfolgt. Die Geschwister einigen sich darauf – aus finanziellen Gründen. Hier darf man über Religiöses und Profanes lachen.

Schließlich trifft noch ein Besuch ein. Yousef (Osama Zatar), ein Cousin aus dem Irak, meldet sich nach gefährlicher Reise in Wien. Maryam bietet ihm zögernd Unterkunft an. Seine Erzählung bringt den fünf anderen so etwas wie Einsicht. Man findet sich, bei der Auseinandersetzung über Flucht.


Lebenslügen. Der Stoff ist aktuell, die Handlung erscheint auf den ersten Blick banal. Doch Ronen ist mit ihrem Team in dem flotten Kammerspiel ein kleines Meisterwerk voller Gags gelungen. Wie bei früheren Stücken, etwa „Hakoah“ (das unter der neuen Volkstheater-Direktorin Anna Badora aus Graz für Wien übernommen wurde), überzeugt die Aufführung durch ihre Spontaneität, durch ihren Witz und das rare Talent, platte Alltagssprache aufzuspießen, all die Lebenslügen der abgesicherten Boheme zu enthüllen – lauter heutige Charaktere mit ihren lässlichen Sünden und großen Träumen.

Klein etwa spielt einen Egoisten, der in seiner Hilflosigkeit zwar nervt, aber auch Mitleid erregt. Man versteht die Ambiguität, dass sich Camille von diesem Elias getrennt hat und ihm in der Stunde der Not hilft. Der junge Mann hat in Schwester und Ex-Freundin verlässliche Ersatzmütter, die er moralisch unter Druck zu setzen weiß.

Weniger gut gelingt Jochen diese Taktik. Thümer überzeugt völlig darin, die unglaubliche Überheblichkeit dieses Video-Künstlers auszudrücken. Er rennt wohl auch deshalb bei seinen Versuchen, mittels seines Sohnes wieder Kontrolle über Maryam zu erlangen, gegen eine Wand. Auch im Dialog mit der dunkelhäutigen Camille holt er sich eine Abfuhr. Rasch sind seine beiläufigen Bemerkungen über ihre „Herkunft“ als Rassismus enttarnt.

Stöger wiederum spielt eine starke Frau, die gelernt hat, mit Defiziten umzugehen. Nur manchmal lässt sie Anflüge von Verzweiflung auch in ihrer ganzen Bitterkeit durchscheinen. Ausgeglichen scheint hingegen Jochen zu sein, ein netter Sympathieträger, ein echter Freund, der nur cholerisch wird, wenn ihm die Untugenden des Ex-Mannes zu viel werden. Die Charaktere sind komplex, selbst Erfolgsfrau Camille hat gerade darin eine Schwäche, dass sie Probleme stets nüchtern angeht. Sie wirkt dadurch ziemlich kalt.

In dieser Hinsicht ist Yousef ihr eigentlicher Gegenspieler, der geflüchtete Ingenieur. Was sagt man zu einem Gast, der rauchend, mit ruhiger Stimme davon erzählt, wie er durch die Hölle gegangen ist? Der Verlauf des Stückes ist so angelegt, dass man diesem Asyl suchenden Mann eigentlich nur Sympathie entgegenbringen kann. „Lost and Found“ ist ein freundlicher Appell für mehr Menschlichkeit. Auffällig ist, dass Yousef spät auftritt, zuvor war das Thema Flucht nur in Anspielungen zu spüren und in der profanen Form des alltäglichen Eskapismus vor der Leistungsgesellschaft.

Der Asylant wird hier zum Deus ex Machina. Er verhindert, dass sich die Herzen verhärten. Am Ende kündet er an, dass er nach Deutschland weiterreisen wolle: „Mama Merkel liebt uns!“ Da setzt bei seinen Gastgebern, die auf ihn zuvor mit hilfloser Skepsis reagierten, ein Sturm der Entrüstung ein. Die fünf preisen auf einmal die Vorzüge des gastfreundlichen Österreichs, sie zählen mit Verve die Nachteile auf, die Yousef im großen Nachbarland erwarten würden. Da fällt sogar der Satz: „Ich hasse mich dafür, dass ich Deutscher bin!“ Mit dieser ironischen Volte klingt „Lost and Found“ aus, eine wunderbare, kluge und auch herzige Aufführung, die das Ensemble hervorragend auf die Bühne bringt. Ein Höhepunkt der bisherigen Saison.

AutorIn und Stück:

Yael Ronen, geboren 1976 in Jerusalem, studierte Szenisches Schreiben in New York und Regie in Tel Aviv. Sie inszenierte u. a. am Israelischen Nationaltheater, am Staatsschauspiel Dresden und am Schauspielhaus Graz. Seit 2013 Hausregisseurin am Maxim Gorki Theater in Berlin. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, etwa 2013 mit dem Nestroy-Preis für „Hakoah Wien“ (UA 2012 in Graz) als beste Aufführung in den Bundesländern. 2014 Nominierung in der Kategorie Beste deutschsprachige Aufführung für „Common Ground“ (UA 2014 im Maxim Gorki Theater).

„Lost and Found“: Konzept, Regie: Yael Ronen, Bühne: Tal Shacham, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Yaniv Fridel, Ofer „OJ“ Shabi, Video: Jan Zischka, Licht: Klaus Tauber, Dramaturgie: Veronika Maurer.

Termine: 28. 12. sowie 4., 8. und 14. Jänner 2016 (19.30 Uhr) und 31. Jänner (15 Uhr).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2015)

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