Sven Hannawald schrieb 2002 Geschichte, gewann als bis dato einziger Skispringer auf allen vier Tourneestationen. Der Deutsche, 41, über seinen Grand Slam, die Favoriten, Psyche – und Schlierenzauers Tief.
Oberstdorf. So grün sieht man den Allgäu nur im Sommer. Weit und breit kein Fleckchen Schnee und dann ragt plötzlich der Turm der Schattenbergschanze leuchtend empor. Weiße Spur, auch der Auslauf war präpariert – die Anreise nach Oberstdorf ließ zwar keineswegs darauf schließen, dass ein Wintersportklassiker auf dem Programm steht, doch die 64. Vierschanzentournee hebt heute mit der Qualifikation (ab 17.15 Uhr, ORF eins) und dem Auftaktbewerb am Dienstag nach Plan an.
Skispringen ist eine hohe Kunst, die Tournee von Mythen, Gesetzen und Geschichten gespickt wie kaum ein anderes Sportereignis. Natürlich, allen voran steht immer die neugierige Frage, ob es denn wieder einmal einem Adler gelingen könnte, auf allen vier Stationen zu triumphieren. Es ist diese bohrende Frage, um die es kein Umhinkommen gibt. Wie die Suche nach Favoriten oder die sinnbefreite Frage an Skispringer nach ihrem Silvestermenü.
Einer, der all diese Fragen jahrelang über sich ergehen lassen musste, diesen Zirkus dominierte mit Sprüngen, grandiosen Landungen und dem bislang einzigen Grand Slam im Rahmen der Tournee ist der Deutsche Sven Hannawald. Der mittlerweile 41-Jährige übt sich im Motorsport, hat seine Biografie vermarktet und glänzt längst nicht mehr mit mageren Antworten; im Gegenteil. „Ich habe immer dieses Kribbeln. Knackt einer meinen Rekord?“
2002, sein Jubel in Bischofshofen, das Toben der Menge, das historische Kunststück, keinen Augenblick davon hat Hannawald vergessen. Ob ihn einer ablöst, das beantwortet er nicht. Er sieht Peter Prevc und Severin Freund im Hoch und wundert sich über die eklatante Schwäche der Österreicher. Aber: „Man kann die Tournee nicht planen, sie passiert. Du musst dich an vier Tagen durchboxen, hinzu kommen Reisestress, die vielen Fragen, Ängste. Du brauchst Glück.“ WM- und Olympia-Gold (Team), Gesamtweltcupsieg, Skiflugerfolge – all das sei wunderbar, sagt „Hanni“. Doch eine Karriere ohne Tourneesieg sei nur die „halbe Miete“.
Skispringer brauchten Antrieb, neue Ziele, dafür sei ihre Psyche, die Sportart zu feinfühlig, sagt Hannawald und erklärt sich so Gregor Schlierenzauers Tief. „Von außen betrachtet, scheint er antriebslos zu sein. Wenn man sieht, was er alles erreicht hat, ist das auch verständlich. Irgendwann sendet der Körper nicht mehr diese Signale, dass er frei springen kann.“ Man müsse sich befreien, loslassen, all die Energie anders investieren, den Sprung wieder genießen – sagt einer, der früher alle Fragen nach Form und Befinden mit „Ich mache mein Dings“ abgeblockt hat. Aber sein Erfolg gibt ihm auch in der Gegenwart noch recht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2015)