„Irgendjemand sollte Verrücktheiten stoppen“

Wladimir Jakunin
Wladimir Jakunin(c) Michaela Bruckberger
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Wladimir Jakunin, ein Weggefährte Putins, über Sicherheitsfragen, Syrien-Engagement und unsinnige Sanktionen.

Berlin. Wladimir Jakunin (67) gehört als jahrzehntelanger Weggefährte und Datschennachbar von Kreml-Chef Wladimir Putin zum innersten Kreis im russischen Establishment. Zwar schied er im Sommer aus undurchsichtigen Gründen aus dem Amt des Präsidenten der staatlichen russischen Eisenbahnen. Das hat nichts daran geändert, dass er sich weiterhin regelmäßig mit Putin trifft. Der gelernte Diplomat fungiert nun als Sprachrohr seines Landes in Europa, wo er länderübergreifend eine Art Thinktank hochziehen will, der nach dem Willen Putins das angebliche US-Meinungsmonopol in internationalen Fragen brechen soll. „Die Presse“ traf Jakunin, der auf der US-Sanktionsliste steht, zum Interview in Berlin.

Ihre Umtriebigkeit im Westen riecht danach, dass Russland einen anderen Diskurs in Gang setzen will. Was passt Ihnen am bestehenden nicht?

Wir haben im Moment nur eine einzige Wahrheitsquelle, und die sitzt in Washington. Diese Mainstream-Ideologie besteht darin, eine klare Trennung in Gute und Schlechte vorzunehmen. Uns geht es darum, westliche und russische Gelehrte zusammenzubringen, um neue Bande zu knüpfen. Eine Art Thinktank oder Analysezentrum auf Basis des in Wien angesiedelten World Public Forum zu schwierigen Konflikten in der modernen Welt soll entstehen. Ich war deshalb auch schon in China, wo die Idee unterstützt wird. Mir scheint, dass eine Welt, in der nur ein Standpunkt vorherrscht, sehr fehleranfällig ist, weil das Korrektiv fehlt.

Ist Ihre Aktivität mit dem Kreml abgesprochen?

Wir reden darüber. Aber Geld dafür habe ich nie bekommen. Wichtig ist, dass niemand dagegen opponiert.

Putin ist ja von zwei Lagern umgeben – den sogenannten Liberalen und den Hardlinern. Trügt der Schein, dass derzeit die Hardliner die Oberhand haben?

Die Annahme, dass alles in diese beiden Gruppen geteilt ist, ist nicht völlig korrekt. Man ist oft überrascht, dass die, die sich als liberal geben, sich mitunter viel unangemessener in Fragen von Demokratie oder Privateigentum verhalten als die sogenannten Hardliner. Zweitens werden Sie etwa in der Frage Syrien kaum einen Staatsdiener bei uns finden, der nicht sagen würde, dass es reicht. Alle sind der Überzeugung, dass die Jihadisten nach Europa Russland ins Visier nehmen werden.

Entspringt Russlands Kooperationsbereitschaft in Syrien dem Kalkül, dass der Westen Russland im Ukraine-Konflikt entgegenkommt?

Nein. Zumindest nicht so direkt. Aber ich denke, es ist psychologisch so: Wenn man eine Lösung in einem Punkt findet, gibt es keinen Grund, nicht weiterzugehen und nicht auch eine Lösung in anderen Konfliktbereichen zu suchen.

Es gibt in Europa harte Befürworter einer Sanktionspolitik – die neue polnische Regierung etwa. Manche sind Nato-Bündnispartner, sie verlangen auch Truppen in Polen und den baltischen Staaten.

Ihr habt diese Länder zur Mitgliedschaft in der EU und der Nato eingeladen. Nicht wir in Russland müssen uns fragen, wie ihr mit einigen Mitgliedern umgeht – etwa solchen, die russische Kampfflugzeuge, die gegen den Terrorismus kämpfen, abschießen.

Aber ist es nicht eine Überreaktion, dass Russland nach dem Abschuss im Handumdrehen alle Wirtschaftsbeziehungen zur Türkei abgebrochen hat?

Unfälle können überall passieren. Daher koordiniert sich Russland mit den USA, um so etwas in Syrien auszuschließen. Vielleicht war es kurzsichtig zu glauben, dass diese Abstimmung mit dem Nato-Hauptmitglied ausreichen würde. Das russische Flugzeug war 17 Sekunden im türkischen Luftraum und wurde dann von den Türken auf syrischem Gebiet abgeschossen. Russland hat dann drei Tage zugewartet. Am ersten Tag gab es von der Türkei überhaupt keine Erklärung. Am nächsten Tag gab es Beileidsbekundungen, die am dritten Tag aber zurückgenommen wurden. Das ist rein psychologisch abnormal.

Könnte ein bilaterales russisch-türkisches Treffen auf Präsidentenebene helfen?

Politisch sind die Regeln andere. Aber persönlich würde ich nie jemandem die Hand schütteln, der mir in den Rücken getreten ist.

Das widerspricht christlichem Gedankengut, dem Sie sonst ja sehr demonstrativ anhängen.

Ja, tut mir leid. Im Christentum heißt es: Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin. Aber es steht nichts von einem Tritt in den Rücken.

Immerhin hat sich die Nato sehr zurückgehalten.

Die Türken taten etwas, was Russland und die Nato einer Konfrontation näher brachte. Das ist weitaus gefährlicher als der rein türkisch-russische Konflikt. Der Konflikt kann wohl nicht ohne die Unterstützung anderer Nato-Mitglieder überwunden werden.

Ist es ein Fortschritt im Verhältnis Russlands zum Westen, dass Frankreichs Präsident, François Hollande, nach den Terroranschlägen gleich auch Putin besuchte und ins Boot einer Allianz holte?

Das ist sogar extrem wichtig. Da geht es gar nicht so sehr um Formulierungen, da reicht allein das Bild.

Obwohl es keine Einhelligkeit über die künftige Rolle des syrischen Präsidenten Assad gibt?

In der sowjetisch-russischen Geschichte haben wir einmal den Fehler gemacht, ein anderes Regime ändern zu wollen. Das war in Afghanistan. Die Amerikaner haben solche Fehler öfter gemacht: Vietnam, Korea, Libyen, Jugoslawien, Irak, Syrien. Daher ist es höchst an der Zeit, etwas von der Ideologie wegzunehmen und etwas pragmatischer zu werden. Stellen Sie sich nur vor, morgen passiert etwas mit Assad. Wer hat dann die Macht? Wie kommt man auf die Idee, sich in erster Linie darauf zu konzentrieren, einen Präsidenten – und ich betone hier nicht die Person, sondern die Funktion – zu demontieren. Was kommt danach? Es wird niemand mehr da sein, der dem Vordringen des IS Widerstand leistet.

Wäre Russlands strikte Position zu Syrien flexibler, wenn es Fortschritte bei der Lockerung der Sanktionen gäbe?

Das glaube ich nicht. Putin hat wiederholt festgehalten, dass es an Syriens Volk liege, wen es als Präsidenten haben wolle.

Sie haben selbst die Notwendigkeit von Korrektiven erwähnt. Das betrifft natürlich auch Russland, wo eine Person schier alles entscheidet und daher die Fehleranfälligkeit hoch sein muss. Wer ist denn ein Korrektiv für Putin, wenn die Opposition so marginalisiert ist?

Es stimmt, ich sehe auch keine wirkliche intellektuelle Opposition zu Putin in Russland. Das Problem ist: Wir haben in der Tat keine Teilung zwischen der Regierungspartei und irgendeiner Opposition, sondern wir haben innerhalb der Regierungsstrukturen unterschiedliche Zugänge.

Können Sie sich an eine Entscheidung Putins erinnern, bei der Sie sich gesagt haben: Mein Gott, mein alter Freund, warum hast du das so gemacht?

Das war nur im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit. Ich habe oft gesehen, dass Putin sich auch oppositionelle Vorschläge anhört und dann Entscheidungen getroffen hat.

Was wäre das Dringlichste, das getan werden müsste, damit die Wirtschaft 2016 nicht weiter in der Rezession versinkt?

Die meisten Prognosen gehen davon aus, dass sich die schleppende Entwicklung zumindest bis zur Jahreshälfte fortsetzen wird. Sie kann sogar weiter anhalten, denn es ist nicht leicht, neue Wirtschaftssektoren zu entwickeln, die wir bisher vernachlässigt haben. In Krisenzeiten wäre es extrem wichtig, dass Investitionen vom Staat kommen. Diese Anstrengungen könnten größer sein. Aber das betrifft ja nicht nur Russland. Ich denke, Russland und Europa sollen mehr kooperieren, um aus dieser Krise herauszukommen.

Also Sanktionen lockern.

Das liegt an Ihnen in Europa. Sie haben sie eingeführt.

Moskau hat seinerseits Sanktionen gegen die Ukraine und die Türkei verhängt.

Das ist natürlich nicht gut. Irgendjemand soll diese Verrücktheiten stoppen. Denn irgendjemand Dritter ist Nutznießer dieser Politik. Genug ist genug. Lassen Sie uns das stoppen!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2016)

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