Neujahrskonzert: Dreivierteltakt zwischen Paris und Petersburg

Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2016
Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2016(c) ORF (Milenko Badzic)
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Mariss Jansons stand zum dritten Mal am 1. Jänner am Pult der Philharmoniker. In einem bunten Programm führte er das Orchester auf symphonisch-differenzierte Weise durch die vielfältigen Gefilde der Tanzmusik.

Bei Mariss Jansons springt der Funke sofort über: Die Wiener Philharmoniker lieben ihn. Man hört es. Sie mobilisieren allen Schönklang für ihn und lassen sich vor allem zu zündenden Effekten anstacheln, die wiederum das Publikum sofort elektrisieren. Das dritte Neujahrskonzert, das Jansons anvertraut wurde (rezensiert wird hier die Voraufführung am Silvesterabend 2015), begann aus Anlass des 70. Jahrestages der UNO mit dem dieser Organisation gewidmeten Marsch von Robert Stolz.

Das ist, sagen wir's, wie es ist, Laufbandmusik eines Unterhaltungsprofis, die im Vergleich zur edelsten Sorte von Walzern und Polkas, wie sie die Philharmoniker traditionell zu Neujahr servieren, qualitativ doch ein wenig abfällt. Als nette Geste gegen einen aufrechten Österreicher und großen Melodienerfinder wie auch gegen die Vereinten Nationen stand der Marsch diesmal freilich rechtens am Beginn. Und man lernte daraus: Es kommt immer darauf an, wer eine Pointe serviert.

Symphonischer Tiefgang

Was folgte, war feinste symphonische Kunst, liebevoll differenziert, wie man es von dem Gespann Philharmoniker/Jansons sonst bei Mahler oder Tschaikowsky gewöhnt ist. Dieser Dirigent nimmt die Sträuße so ernst wie die großen Klassiker und Romantiker. Und er lässt einen „Schatzwalzer“, die „Sphärenklänge“ oder sogar Carl Michael Ziehrers populäre „Weana Madln“ wie Tondichtungen für den Konzertsaal spielen, was sie zum Teil ja auch waren. Von der Tanzmusik ist ein Joseph Strauß, wenn er die Sphärenharmonien in geradezu wagnerianischer Manier beschreibt, meilenweit entfernt. Längst hatten er und seine Brüder die bürgerlichen Musentempel erobert. Man lauschte sogar auf Bällen einer Novität, um sie zu taxieren. Erst zum Dacapo wurde getanzt.

Wenn Mariss Jansons dirigiert, lässt sich im Übrigen noch lernen, wie viele unterschiedliche Zugänge es zum Thema Walzertakt, oder genauer: zur Walzerbegleitung, geben kann. Da sind die wienerischen, legendär „verhatschten“ Eins-zwei- und, wie Bruno Walter sagte, „vielleicht“ -Dreischritte. Da sind aber auch die elegant und ganz gleichmäßig dahinschwebenden Takte französischer Provenienz, die sich diesmal mit spanischem Brio verschwisterten, weil man den „España“-Walzer des Elsässers Emil Waldteufel gewählt hatte, der die Melodien von Chabriers beliebter gleichnamiger Fantasie paraphrasiert. Ähnlich egalitär geht es im russischen Walzer zu. Den spürt der Wahl-St.-Petersburger Jansons auch dort auf, wo ihn die meisten Kollegen übersehen würden: Das Zwischenspiel aus Johann Strauß' später Operette „Fürstin Ninetta“ gab man im melancholisch-sehnsuchtsvollen Tschaikowsky-Ton, was daran erinnerte, dass Strauß während einer seiner Pawlowsker Sommerresidenzen die allererste Uraufführung eines Tschaikowsky-Stückes dirigierte – aber auch berechtigt scheint, weil die italienische Fürstin Ninetta in Wahrheit eine Russin ist . . .

Derartige Subtilitäten sind in Wien nicht an jedem 1. Jänner im prächtig geschmückten Musikverein auszumachen. Freilich, ein Mariss Jansons darf sich trauen, den Philharmonikern auch technische Nüsse zu knacken zu geben, die in einem Unterhaltungsprogramm sonst fehlen: Da staunte man, welche teuflischen Fingerfertigkeiten Josef Hellmesberger senior, einst philharmonischer Konzertmeister, in seiner nach einer Mayseder-Etüde gearbeiteten „Ballszene“ seinen Primgeigerkollegen – und über einige Strecken sogar den Sekundgeigern – abverlangt, die im Neujahrskonzert zahlenmäßig stark unterlegen sind, sich trotzdem nicht weniger virtuos schlugen als die in vollzähliger Stärke erschienenen, weil im Übrigen allein melodieführenden Kollegen von vis-à-vis.

„Verweile doch, du bist so schön“

So war dieses Neujahrskonzert-Programm besonders reichhaltig und abwechslungsreich. Zusätzlich erschienen noch die Wiener Sängerknaben auf der Empore und sangen auswendig und klangschön bei Johann Strauß' „Sängerslust“ und „Auf Ferienreisen“ mit, was die Anzahl der zwecks fotografischer Verewigung des schönen Augenblicks gehobenen Mobiltelefone im Saal kräftig anwachsen ließ. Zwei Beobachtungen noch zum fröhlichen Beschluss: Geschossen werden darf in Zeiten wie diesen im Neujahrskonzert auch nicht mehr, wenn der Komponist es ausdrücklich vorschreibt: Worauf die beiden mit Klapphölzern ausgestatteten Schlagwerker in „Auf der Jagd“ Jagd machen, bleibt ein Geheimnis, doch ist es erfreulich, dass der Klamauk auf wenige dezente Späße beschränkt bleibt. Dass man sich mehr dem Musizieren als dem Grimassieren widmet, passt zum symphonischen Stil des Maestro.

Sodann bilde ich mir ein, der „Donauwalzer“ würde mit den Jahren immer langsamer gespielt. Das wäre zu verifizieren, doch ist der Eindruck wohl der Tatsache geschuldet, dass die Lust am Auskosten des Schönklangs bei den Spielern so ausgeprägt ist wie beim dafür dankbaren Auditorium, das – doch noch eine dritte Beobachtung – beim „Radetzkymarsch“, vom Dirigenten ausdrücklich dazu animiert, noch nie so laut gepascht hat wie diesmal. Jansons verließ während des „Trios“ sogar den Saal, um zur Reprise wieder „einzumarschieren“. Prosit.

Der nächste Neujahrskonzert-Dirigent ist 2017 der Venezolaner Gustavo Dudamel, mit seinen 34 Jahren der jüngste bisher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2016)

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