Ein Jahr seit "Charlie Hebdo"

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FRANCE-CHARLIE-HEBDO-ATTACKS-FILESAPA/AFP (EMMANUEL DUNAND)
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Der Angriff auf das Satiremagazin am 7. Jänner 2015 war der Auftakt für zahlreiche schwere Terrorattacken in Frankreich. Ein Rückblick.

Vor einem Jahr haben die islamistischen Anschläge auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und einen koscheren Supermarkt in Paris, Frankreich und die ganze Welt erschüttert. Dass sie nur der Auftakt waren für ein in der jüngeren Geschichte des Landes beispielloses Jahr des Terrors, ahnte damals noch niemand. Heute ist die Angst vor islamistischen Attacken gegenwärtiger denn je.

Insgesamt zwölf Menschen starben als die beiden Brüder Cherif und Said Kouachi am 7. Jänner 2015 kurz vor Mittag die Redaktionsräume von "Charlie Hebdo" stürmten und mit Kalaschnikows um sich schossen. Zu den Opfern zählten einige der bekanntesten Karikaturisten Frankreichs, wie Stephane Charbonnier (Charb), Jean Cabut (Cabu), Philippe Honore oder Georges Wolinski. Nach zwei Tagen auf der Flucht wurden die beiden Täter, die sich zur Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) bekannten, in einer Druckerei nördlich von Paris von Sondereinsatzkräften erschossen.

Die Brüder Kouachi standen in Kontakt zu Amedy Coulibaly, alle drei hatten sich vorwiegend in Frankreich und sprichwörtlich unter den Augen des französischen Geheimdienstes radikalisiert. Letzterer gab an, im Namen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zu handeln und erschoss am Tag nach dem "Charlie Hebdo"-Attentat eine Polizistin im Süden von Paris. Wiederum einen Tag später nahm er Kunden eines koscheren Supermarktes als Geiseln - vier von ihnen tötete er, bevor die Polizei den Markt stürmte und Coulibaly erschoss. Insgesamt starben an den drei Terrortagen im Jänner 17 Opfer.

1,5 Millionen Franzosen marschieren

Europäische und internationale Spitzenpolitiker reagierten mit Entsetzten, rund 50 von ihnen beteiligten sich wenige Tage nach den Anschlägen gemeinsam mit 1,5 Millionen Franzosen am "Republikanischen Marsch" durch das Zentrum von Paris. Neben Anerkennung für diese Geste der Solidarität, sorgte schon damals die Teilnahme umstrittener Persönlichkeiten für Kritik. Der türkische Premier Ahmet Davutoglu, Russlands Außenminister Sergej Lawrow, der gabunische Präsidenten Ali Bongo oder auch Ungarns Premier Viktor Orban gelten alle nicht unbedingt als Verteidiger der Meinungsfreiheit.

Vor allem aber war der "Republikanische Marsch" eine Vorschau auf das, was Frankreich in den nächsten Monaten erwarten sollte. Möglich war der gemeinsame Aufmarsch der Spitzenpolitiker wider den Terror nur aufgrund massiver Sicherheitsmaßnahmen, die Paris an diesem Tag beinahe zum Stillstand kommen ließen. Kurze Zeit später brachte die französische Regierung eines der umfassendsten Geheimdienstgesetzte Europas auf den Weg, das Lauschangriffe ohne Zustimmung eines Richters sowie ein Monitoring der gesamten Internetkommunikation erlaubt. Auch die höchste Terrorwarnstufe - die Attentatswarnung - ist in Paris seit nunmehr einem Jahr ununterbrochen in Kraft.

13. November 2015

Verhindert hat das die verheerenden Anschläge vom 13. November, als islamistische Extremisten beinahe zeitgleich das Feuer auf mehrere Bars und Restaurants sowie im bekannten Konzertsaal "Bataclan" eröffneten, freilich nicht. Die Attacke, bei der 130 Menschen starben, war nach heutigem Kenntnisstand in Belgien vorbereitet und auch von dort aus koordiniert worden. Trotz eines unmittelbar nach der Attacke verhängten Ausnahmezustandes und Grenzkontrollen konnten die französischen Behörden die Ausreise eines mutmaßlichen Beteiligten - des heute weltweit gesuchten Salah Abdeslam - nach Belgien nicht verhindern.

Auch aufgrund des auf drei Monate ausgedehnten Ausnahmezustandes, der den Sicherheitskräften etwa nächtliche Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss oder Hausarrest für potenzielle Gefährder erlaubt, wurden in den Wochen danach unzählige Razzien rund um Paris durchgeführt: Fast 3000 waren es bis Jahresende, knapp 400 Menschen wurden mit Hausarrest belegt, mehr als 500 Verfahren eingeleitet. Nicht nur weil diese Razzien oft Unschuldige treffen, übte etwa die französische Menschenrechtsliga heftige Kritik an den Maßnahmen. Auch sind es immer wieder ganz gewöhnliche Kriminelle, die ins Visier der Terrorfahnder geraten: So wurden etwa 181 der gut 500 Verfahren wegen Rauschgiftdelikten eingeleitet.

"Wir haben den Terrorismus noch nicht besiegt"

Die Kritik ist umso heftiger, als die Terrorgefahr im vergangenen Jahr eher zugenommen als abgenommen zu haben scheint und der Anschlag vom 13. November der schlimmste in Europa seit der Al-Kaida-Attacke auf die Vorstadtzüge von Madrid 2004 war. "Ich schulde Ihnen die Wahrheit", gab sich der französische Präsident Francois Hollande zuletzt bei seiner Neujahrsbotschaft pessimistisch. "Wir haben den Terrorismus noch nicht besiegt, die Bedrohung ist noch immer da, auf höchstem Niveau, wir vereiteln regelmäßig Attentate."

Und nirgendwo war das zuletzt sichtbarer als bei den Silvesterfeierlichkeiten, die vielerorts in Europa unter nie zuvor gekannten Sicherheitsvorkehrungen stattfanden. Alleine rund um den Wiener Silvesterpfad waren 500 Polizisten im Einsatz, in Paris waren es 11.000, das traditionelle Feuerwerk wurde ebenso wie in Brüssel, wo noch am Vormittag sechs Terrorverdächtige festgenommen wurden, abgesagt. Und in München ließ die Polizei in den Abendstunden blitzartig den Hauptbahnhof und den Bahnhof Pasing räumen, nachdem es zuvor "konkrete" Hinweise auf einen Anschlag durch IS-Terroristen gegeben hatte.

Vielleicht ist es aber gerade die Silvesternacht, die etwas Hoffnung geben kann. Denn allen Terrorwarnungen zum Trotz ließen sich Hunderttausende in Paris, in Wien, in München nicht davon abhalten, den Jahreswechsel gebührend zu feiern. "Freunde aus der ganzen Welt, ich danke euch für #prayforparis, aber wir brauchen nicht noch mehr Religion. Unser Glaube gilt der Musik! Küssen! Leben! Champagner und der Freude", schrieb bereits der französische Karikaturist Joann Sfar unmittelbar nach den Anschlägen vom 13. November.

Chronologie

7. Jänner: Beim Attentat auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" werden in Paris zwölf Menschen getötet. Die beiden Täter kommen zwei Tage später bei einer Polizeiaktion ums Leben. Zum Anschlag bekennt sich die Terrororganisation Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel. Ein mit ihnen bekannter dritter Täter erschießt in Paris parallel dazu eine Polizistin und nimmt in einem jüdischen Supermarkt Geiseln, von denen er vier erschießt, bevor er selbst von der Polizei getötet wird. Er bekennt sich zuvor zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).

11. Jänner: Aus Protest gegen die Terrorwelle gehen im ganzen Land nach Schätzungen zwei Millionen Menschen auf die Straße. Viele Staats- und Regierungschefs reisen zum Pariser Gedenkmarsch an.

19. April: Nach der Ermordung einer Frau wird in Villejuif bei Paris ein Student festgenommen. Der 24-Jährige mit Kontakt nach Syrien soll mit einem Waffenarsenal aus Kalaschnikow-Sturmgewehren, Pistole und Revolver Anschläge auf Kirchen geplant haben.

26. Juni: Ein 35 Jahre alter mutmaßlicher Islamist wird beim Versuch überwältigt, in einem Industriegas-Werk in Saint-Quentin-Fallavier bei Lyon eine Explosion herbeizuführen. Der Mann hatte zuvor seinen Arbeitgeber enthauptet und den Kopf mit zwei Islamistenflaggen auf den Fabrikzaun gesteckt. Im Dezember erhängte er sich im Gefängnis.

21. August: Ein 25-jähriger Islamist wird im Thalys-Schnellzug Brüssel-Paris bei einem Anschlagversuch mit einem Schnellfeuergewehr von Fahrgästen überwältigt. Zwei Zuginsassen werden verletzt.

13. November: Bei einer koordinierten Anschlagsserie in Paris töten IS-Extremisten 130 Menschen. In der Konzerthalle "Bataclan" richten sie ein Massaker an, sie erschießen mehrere Menschen in Bars und Restaurants, vor dem Stade de France sprengen sich während des Fußball-Länderspiels Frankreich-Deutschland drei Selbstmordattentäter in die Luft.

14. November: Erste Spuren weisen nach Belgien. Bei einer Razzia in Brüssel-Molenbeek werden mehrere Menschen festgenommen.

16. November: Mit einer Schweigeminute wird europaweit der Opfer gedacht. Präsident Francois Hollande will eine weltweite Koalition gegen den IS ins Leben rufen. Als ein Drahtzieher gerät der belgische Islamist Abdelhamid Abaaoud ins Visier. Gefahndet wird überdies nach Salah Abdeslam, dem Bruder eines der Attentäter.

17. November: In Hannover wird das Fußball-Länderspiel Deutschland-Niederlande abgesagt. Später stellt sich heraus, dass es konkrete Informationen eines ausländischen Geheimdienstes zu Bombenanschlägen im Stadion und am Hauptbahnhof gab.

18. November: Bei einem Anti-Terror-Einsatz in Saint-Denis bei Paris nimmt die Polizei sieben mutmaßliche Komplizen der Attentäter fest. Drei weitere Verdächtige kommen ums Leben, wie sich später herausstellt - einer ist der gesuchte Abaaoud.

21. November: Belgiens Behörden rufen nach konkreten Hinweisen auf einen geplanten Anschlag für die Hauptstadtregion Brüssel die höchste Terrorwarnstufe aus. Das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Erst nach fünf Tagen wird die maximale Warnstufe wieder aufgehoben.

23. November: Bei einem groß angelegten Anti-Terror-Einsatz werden in Brüssel 16 Personen vorläufig festgenommen. In den folgenden Wochen gibt es in Belgien weitere Razzien mit Festnahmen von Verdächtigen.

31. Dezember: In ganz Europa finden die Silvesterfeierlichkeiten unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt. Alleine in der Wiener Innenstadt sind 500 Polizisten im Einsatz, in Brüssel wird das Silvesterfeuerwerk nach Hinweisen auf einen Terroranschlag abgesagt, in München wird in den Abendstunden der Hauptbahnhof sowie ein weiterer Bahnhof geräumt - Grund sind ebenfalls "konkrete Hinweise" auf eine Terrorattacke.

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(APA)

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