Houellebecqs Welt: Von der Dekadenz zur „Unterwerfung“

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FILES-FRANCE-ATTACKS-CHARLIE-HEBDO-LITERATURE(c) APA/AFP/MIGUEL MEDINA
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Michel Houellebecq wird 60 und lässt eine Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen, das Datum ist symbolträchtig: Vor einem Jahr geriet sein Roman „Unterwerfung“ schlagartig in den Mittelpunkt der Terror- und Islamismus-Diskussionen, weit über Frankreich hinaus.

Vor einem Vierteljahrhundert erschienen zwei Gedichtbände, die heute wohl kaum einer kennen geschweige denn neu auflegen würde, wären da nicht ein paar Romane, die der Autor seitdem veröffentlicht hat: vor allem sein tristes Konsumgesellschaftsporträt „Elementarteilchen“, das Ende der Neunziger seinen Ruf als Skandalautor begründete, „Plattform“, das ihm den Vorwurf der Verteidigung des Sextourismus einbrachte, und natürlich zuletzt „Unterwerfung“, seine Vision eines islamisierten Frankreich.

1991 war das Debütjahr des damals noch Mittdreißigers Michel Houellebecq, nun wird er, im Februar, 60 Jahre alt. Nicht mehr jung also – dennoch ungewöhnlich jung für eine Gesamtausgabe, die den meisten Schriftstellern, wenn überhaupt, erst nach dem Tod zuteil wird. Dessen erster Teil ist soeben erschienen, und der Erscheinungstermin ist mit Bedacht gewählt: ein Jahr nach den Anschlägen auf die Redaktion des Magazins „Charlie Hébdo“.

Houellebecqs Name ist mit diesem Attentat untrennbar verknüpft, und die Umstände dieser Verknüpfung gehören zu den merkwürdigsten Kapiteln in einer an Merkwürdigkeiten ohnehin reichen Schriftsteller-Laufbahn. Jene Ausgabe von „Charlie Hebdo“, die am Tag der Anschläge publiziert wurde, hat auf der Titelseite eine Karikatur Houellebecqs gezeigt; und an ebendiesem Tag ist der Roman „Soumission“ („Unterwerfung“) in die Buchhandlungen gekommen, der ein von Muslimbrüdern regiertes Frankreich der nahen Zukunft imaginiert.

Letztlich wirkte der Terroranschlag wie ein makabrer Marketingcoup: Obwohl Houellebecq seine Werbetour zunächst absagte, diskutierte ganz Frankreich über sein Buch; bald stand es in drei Ländern zugleich (außer Frankreich noch Italien und Deutschland) an der Spitze der Verkaufszahlen.

Ein Roman als politisches Symbol

Höchst erfolgreich, höchst diskutiert wäre dieser Roman zweifellos wohl in jedem Fall geworden, aber eine so unmittelbare Rolle im öffentlichen Geschehen und Diskurs haben nur wenige Romane der vergangenen Jahrzehnte gespielt. Schlagartig erreichte das Buch eine solche Symbolkraft, dass sogar Frankreichs Premier, Manuel Valls, auf ihn anspielte, um nach dem Anschlag seine politische Haltung auszudrücken: „Frankreich, das ist nicht die Unterwerfung, Frankreich, das ist nicht Michel Houellebecq.“

Während der Zufall des Datums vor einem Jahr das neueste Buch Houellebecqs in aller Munde brachte, nutzen Autor und Verlag dasselbe Datum heuer, um an die alten Bücher zu erinnern. Der soeben erschienene erste Teil umfasst die Werke von 1991 bis 2000, auf 1200 Seiten und um nur 30 Euro – wobei sich Houellebecq um seine „in kleinen Wohnungen“ lebenden Leser besorgt zeigt: Die könnten dadurch Platz in ihren Bücherkästen schaffen.

Vor Jahren konnte man schon fast denken, Houellebecq sei gezähmt und altersmilde geworden. Für den Vorgängerroman von „Unterwerfung“, den „skandalfreien“ Roman „Karte und Gebiet“ (2010) über einen französischen Künstler, erhielt er den Prix Goncourt, den renommiertesten französischen Literaturpreis. „Unterwerfung“ hat diesen Eindruck wieder weggefegt. Im Grunde aber zeigt Houellebecqs Gesamtwerk große Kontinuität: als eine lange Geschichte westlicher Dekadenz. Gesamtausgabe hin oder her – auf Überraschungen kann man dabei auch im siebten Lebensjahrzehnt dieses Autors gefasst sein. Selbst wenn es scheint, als würden er und seine Protagonisten in einem autistischen (und noch dazu immer reaktionäreren) Sud vor sich hin dünsten: Dank der Verbindung von literarischer Begabung und einem fast unheimlich anmutenden Gespür für den „Zeitgeist“ ist Michel Houellebecq bis heute nicht nur einer der „skandalösesten“, sondern auch einer der erstaunlichsten europäischen Schriftsteller.

Zur Person

Michel Thomas alias Michel Houellebecq debütierte mit Gedichten und dem Roman „Ausweitung der Kampfzone“. „Elementarteilchen“ machte ihn berühmt und heftig angefeindet. Für öffentliche Erregung sorgte er nicht nur mit weiteren Romanen, sondern auch mit Äußerungen in den Medien, etwa 2002 zum Islam als der „dümmsten Religion“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2016)

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