Der Crash konnte gestoppt werden, aber das Bild aus China bleibt chaotisch. Dabei gibt es eine Strategie: Peking will sich den Marktkräften ausliefern – und weckt sie so auch im Westen.
Wien/Shanghai. Eines muss man der chinesischen Führung lassen: Flexibel ist sie. Nach nur zwei Tagen hat Peking am Freitag die erst Anfang des Jahres eingeführten Börse-Notbremsen einfach wieder abgeschafft. Diese automatischen Notbremsen (sogenannte circuit breaker) hatten den Handel zuletzt nach Verlusten mehrmals ausgesetzt, was die Panik aber lediglich auf den nächsten Tag und die übrigen globalen Börsen übertrug.
Jetzt ist Ruhe eingekehrt. Erstmals im neuen Jahr konnte ein Handelstag ohne zeitweise oder komplette Aussetzung des Handels stattfinden. Die Landeswährung Yuan wertete nach tagelangen Verlusten nicht mehr ab, die Börsenkurse erholten sich – sowohl in China als auch im Westen. Die Welt scheint gerettet. Zumindest vorerst.
Von Euphorie kann freilich keine Rede sein. Die chinesischen Turbulenzen haben die westlichen Börsen derart geschockt, dass die ersten Handelstage an der Wall Street als schlechtester Marktstart aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Und die Panik an den chinesischen Märkten konnte Berichten der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge lediglich durch massive Aktienkäufe chinesischer Staatsfonds gestoppt werden.
Aber sei's drum. „Der Markt ist jetzt wieder im Normalzustand“, sagte Analyst Tian Weidong vom Handelshaus Kaiyuan Securities – und gab damit nicht nur die offizielle Parteilinie wieder. Denn: „Die Investoren können kaufen und verkaufen wie sie wollen. Die Notbremse hatte den Markt erstickt.“
Tatsächlich wäre es zu simpel, die Probleme in China allein auf die teils erratischen Maßnahmen seitens der Regierung zu schieben. Denn auch wenn es in der Hektik eines Börsencrashs schwer zu sehen ist – es gibt eine Richtung in China. Diese lautet: Hin zu einem offenen, liberalisierten Markt – und weg von der totalen staatlichen Kontrolle. Im Zuge des letzten Crashs im Sommer 2015 war es großen Investoren verboten worden, Aktien abzustoßen. Seit Anfang 2016 ist ihnen das wieder erlaubt. Die neuen circuit breaker sollten eine Panik verhindern – und haben sie doch nur verstärkt, weshalb sie jetzt wieder verschwunden sind. Am Ende stehen die chinesischen Märkte wieder „normal“ da. Unklar sei, wo die Regierung mit dem Yuan hinwill, sagen Händler – und beweisen ihre Überforderung mit der neuen chinesischen Realität.
Denn statt der Welt ein Wechselkursziel bekannt zu geben, gibt die Peoples Bank of China den Wechselkurs der „Volkswährung“ schrittweise frei. Gleichzeitig – und das stellt eine enorme Herausforderung da – versucht sie, die Luft aus der Spekulationsblase zu lassen, die sich in den Jahren zuvor aufgebaut hat. Dass das in einem nominell noch immer kommunistischen Land für Verwirrung sorgt, ist klar. Und auch die westlichen Börsen reagieren mit ungläubigen Blicken – denn die Stabilität des chinesischen Staatskapitalismus im roten Hemd war ihnen zuletzt lieb und teuer.
Das Pulver ist verschossen
Aber diese Zeiten sind vorbei. China ist bereit, dem Markt mehr Raum zu geben, um seine Rolle als Finanzplatz zu stärken. Wo es früher nur bergauf ging, sind auch fallende Kurse plötzlich eine Option. Dass das den Westen schockieren kann, wo der freie Markt spätestens 2008 durch die Gelddruckmaschinen der Zentralbanken ersetzt wurde, sagt vielleicht mehr über die Wall Street aus als über Shanghai.
China will – da gibt es gar keinen Zweifel – ganz oben mitspielen im Konzert der Großen. Und zwar auch bei der Währung. Deswegen muss sie den Wechselkurs des Yuan schrittweise dem Markt überlassen – und weil der (genauso wie die Aktienkurse) vom Markt offenbar als überbewertet betrachtet wird, bedeutet „Liberalisierung“ am Anfang ihrer Umsetzung eben Kursverluste – vor allem bei Risiko-Investments.
So ließ die Peoples Bank of China auch kaum Zeit verstreichen – und kündigte kurz nach Handelsschluss am Freitag sogar die weitere Freigabe der Zinssätze und eine fortgesetzte „Internationalisierung“ des Yuan an. Und siehe da: Die Dow-Futures drehten nach anfänglicher Euphorie sofort um und setzten erneut zur Talfahrt an.
Denn irgendwo im Hinterkopf wissen auch die westlichen Händler, dass die Party nicht ewig weitergehen kann und dass die Zentralbanken, die seit fast acht Jahren den monetären circuit breaker spielen, ihr Pulver verschossen haben. Heißt: Die Liberalisierung des ehemals kommunistischen China erweckt auch im Westen längst vergessene Marktkräfte. Und die wollen derzeit überall eher nach unten als nach oben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2016)