Religiöse Realitäten

Zwischen den Welten: Bei „Breaking Amish“ lernen junge Amish in New York City die Welt außerhalb ihrer Community kennen.
Zwischen den Welten: Bei „Breaking Amish“ lernen junge Amish in New York City die Welt außerhalb ihrer Community kennen.Discovery Networks
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Im Mutterland des Reality-TV haben auch die Mitglieder diverser christlicher Glaubensgemeinschaften ihre eigenen Realityshows.

Das Liebesleben eines Baumeisters, die Sorgen und Nöte von Maklern und Wohnungssuchenden oder die teils bizarren Pläne rein deutschsprachiger Auswanderer: Das Reality-Leben ist auch dem heimischen TV-Konsumenten nicht fremd. Im Mutterland dieses Formats sorgen außerdem der Kardashian-Jenner-Clan, reiche Hausfrauen von Atlanta bis Beverly Hills und übergewichtige, kleinwüchsige oder kinderreiche Menschen für Unterhaltung. Eine eigene Spezies des Reality-TV sind aber die Shows um Familien, die einer der zahlreichen christlichen Glaubensgemeinschaften angehören und den Rest Amerikas an ihrem Leben teilhaben lassen.

Die berühmteste ist die fundamentale Baptisten-Familie Duggar, deren Format „19 Kids and counting“ – frei übersetzt „19 Kinder bis dato“ – 2008 als „17 Kids and counting“ als Erfolgsgeschichte begann und Mitte 2015 abrupt endete, als sich herausstellte, dass der erwachsene älteste Sohn nicht nur einige seiner Schwestern als Jugendlicher sexuell belästigt hatte, sondern trotz Gattin und vier Kindern noch drei Accounts bei der Seitensprung-Agentur Ashley Madison unterhielt. Bis zu diesem unrühmlichen Ende galt die Serie als Cashcow und Flaggschiff des Reality-Senders TLC und generierte am Ende ihrer Laufzeit durchschnittlich 2,3 Millionen Zuseher pro neuer Folge. 228 Sendungen wurden über die Jahre in zehn Staffeln gedreht und zeigten das Leben von Jim-Bob und Michelle Duggar, die es Gott überließen, wie viele Kinder ihnen zuteil wurden; ihre 19 Kinder teilweise live entbanden, großzogen und „homeschoolten“ – und ihnen erklärten, wie man sich sittsam kleidet und umwerben lässt.


Küsse erst nach der Hochzeit. Vor allem die letzten zwei Jahre, in denen die ältesten Töchter sich verlobten und heirateten, zogen ein großes Publikum an, das nicht genug davon bekommen konnte, den Ritualen der Brautwerbung in fundamentalen Christenfamilien zu folgen. Die Grundregeln heißen: Händchenhalten erst nach der Verlobung, Küsse und Frontalumarmungen erst nach der Hochzeit – und bis dahin immer eine Aufsichtsperson an der Seite, die sicherstellt, dass außer „sidehugs“ – seitlichen Umarmungen – nichts passiert.

Deutlich weniger romantisierend präsentiert sich das Leben in der TLC-Show „Breaking Amish“ und „Return to Amish“, die das Publikum am Leben junger Amish teilhaben lässt, die versuchen, ihren Weg zwischen Tradition und Moderne, offenen Kutschenfahrten und versteckten Handys zu finden. Der Sender begleitete einige junge Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, die temporär nach New York City ziehen, um die Welt außerhalb der Amish-Community kennenzulernen und zu entscheiden, in welcher sie letztendlich leben wollen. Und auch bei ihrer Rückkehr ins heimatliche Pennsylvania, wo sie sich nur schwer wieder einfügen können oder der Kirche den Rücken kehren, mit teilweise dramatischen Konsequenzen auch für ihre Familienangehörigen.

Bei aller gescripteten Realität macht die Serie, die seit 2012 in bisher vier Staffeln ausgestrahlt wurde, den Konflikt und die schwierigen Bedingungen deutlich, in denen sich vor allem die jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft befinden. Zum Teil von der Kirche ge„shunned“ – verbannt –, ohne jede weltliche Ausbildung oder finanzielle Mittel schlagen sich die Protagonisten mehr schlecht als recht durch und erreichen trotz dieses so gar nicht glamourösen oder zumindest gutbürgerlichen Ambientes wie bei den Duggars bis zu 2,14 Millionen Zuseher.

Das größte Skandalpotenzial aber hatte anfänglich die seit 2010 laufende Serie „Sister Wives“ um die Mormonen-Familie von Kody Brown und seinen vier Frauen. 17 Kinder zieht die polygame Familie miteinander groß und wird ihrem selbst auferlegten Anspruch, über ihre besondere Lebensform aufzuklären, gar nicht mal so schlecht gerecht. Wer darauf gehofft hat, zickende Rivalinnen zu Gesicht zu bekommen, wird enttäuscht. Stattdessen präsentierten sich die Browns als gebildete, reflektierte Familie mit einer Kommunikation, die mancher Vater-Mutter-Kind-Familie gut zu Gesicht stünde. Und trägt dazu bei, Klischees über die Mormonen, die die offizielle Kirche seit Jahr und Tag loswerden will, en passant am Fernsehschirm zu entkräften. So erfährt der Zuschauer, dass einer der Brown-Töchter der Übertritt in die Hauptkirche der Heiligen der letzten Tage verwehrt wird, weil sie sich nicht öffentlich von ihren Eltern distanzieren will. Diese gehören nämlich der polygamen Apostolischen Vereinten Bruderschaft an, die der mormonischen Hauptkirche, die die Polygamie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts untersagt, ein Dorn im Auge ist.

Auch die weltlichen Probleme der „pluralen“ Familie, wie sie sich selbst nennt, werden in der Serie thematisiert – von Steuererklärungen bis zu Adoptionsproblemen, die mit einer Lebensform einhergehen, in der nur eine von vier Beziehungen einen legalen Status hat. Wer Einblicke in eine rückständige Welt von entrechteten Frauen erwartet hatte, wurde enttäuscht: Die vier Brown-Frauen haben, trotz durchaus offen zugegebener Konflikte, keinesfalls einen schwachen Stand; eher tut einem der hin und wieder recht erschöpft wirkende Herr des Hauses leid.


Unglaubliche Neugier. Was macht aber die Einblicke in das Leben dieser wahrlich nicht glamourösen Menschen dann so interessant für ein durchaus beachtliches Publikum? „Menschen sind einfach unglaublich neugierig, was andere Menschen und deren Kulturen angeht“, erklärt Pamela Rutledge, Direktorin des kalifornischen Media Psychology Research Center, im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“, „von daher sind solche Shows gar nicht so viel anders als ein Bericht im ,National Geographic‘.“ Darüber hinaus seien diese Formate in Zeiten, in denen Social Media vielen Menschen das Gefühl geben, jeder einstige Mitschüler besäße inzwischen eine Jacht, nur sie selbst nicht, attraktiv: „Sie zeigen Menschen in Außenseiterrollen und dysfunktionellen Konstellationen mit erwartbaren Konflikten, die uns das tröstende Gefühl geben, dass wir es im Vergleich besser getroffen haben“, fasst es die Medienpsychologin zusammen.

Und ein bisschen Schadenfreude ist sicher auch noch dabei, was sich nicht zuletzt in der Phase zwischen dem Publikwerden des Duggar-Skandals und dem Absetzen der Serie gezeigt hat: Da erreichten die ohnehin schon guten Quoten nämlich ungeahnte Höhen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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