"Mein Kampf": Das dicke armselige Buch des Psychopathen

Werbeplakat fuer 'Mein Kampf'
Werbeplakat fuer 'Mein Kampf'Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com
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Am 1. November 1925 erschien in der "Neuen Freien Presse" die erste seriöse und umfassende Rezension von Adolf Hitlers "Mein Kampf". Dem Autor gelang eine treffende Analyse von Hitlers Propagandawerk.

Das abschließende Urteil des Rezensenten kann nicht eindeutiger ausfallen: „Klappt man dieses dicke und doch armselige Buch zu, so fragt man sich, wie es möglich war, dass ein besessener Psychopath, wie es Hitler unzweifelhaft ist, Tausende um sich sammeln konnte.“ Zu lesen in der „Neuen Freien Presse“ vom 1. 11. 1925. Unter dem Titel „Hitlers Memoiren“ stellt die Zeitung ihren Lesern in einem fast ganzseitigen Artikel den ersten Teil von Hitlers „Mein Kampf“ vor, der Text gilt als erste echte und umfassende Rezension und stammt von dem Kulturjournalisten Stefan Grossmann. Anfang November erschienen dann Besprechungen in anderen angesehenen Blättern des deutschsprachigen Raums, darunter in der „Neuen Zürcher Zeitung“, die im Vergleich zum Wiener Blatt mehr Nachsicht mit dem Autor walten ließ und ihn als „zweifellos begabten, für das Große erglühten Menschen“ bezeichnete. Die liberale deutsche „Frankfurter Zeitung“, die eine ähnliche Leserstruktur wie die „Neue Freie Presse“ hatte, versuchte hingegen in ihrer Besprechung, die „terroristische Demagogie“ des Trommlers herauszustellen. Adolf Hitler hegte zu beiden bürgerlichen Zeitungen eine tiefe Abneigung, seit seiner Wiener Zeit hasste er das „Judenblatt“, das er nach dem Einmarsch in Österreich einstellen ließ, die „Frankfurter Zeitung“ wiederum attackierte er in „Mein Kampf“ als „sogenannte Intelligenzpresse“, die „Gift in die Herzen ihrer Leser gieße.“

In einem irrten die großen Blätter: Sie alle hielten Hitler – erst recht nach diesem selbstentlarvenden Memoirenbuch – für erledigt. „Erledigung Hitlers“ titelte die „Frankfurter Zeitung“ und die „Neue Freie Presse“ begann mit dem Satz: „Wer vor zwei Jahren in München war, weiß, dass diese schöne, einst auch liebenswürdige Stadt damals berauscht oder vielmehr besoffen von einem jungen Mann war, von Adolf Hitler. Die Herrlichkeit ist heute schon wieder dahin, die große Partei hat sich halb und halb verlaufen.“ Die Seifenblase einer hysterischen Nationalbewegung sei schon geplatzt. Das klingt wie ein Nachruf auf eine Zeit politischer Irrläufer. Damit war das Schicksal dieses Buchs im Österreich der Zwanzigerjahre besiegelt: Es wurde kaum mehr rezipiert und nicht diskutiert, auch nicht von gegnerischer, sozialdemokratischer Seite, die sich um 1930 in der „Arbeiter-Zeitung“ mehr mit dem italienischen Faschismus auseinandersetzte als mit der Ideologie des Nationalsozialismus. Man weiß, dass selbst illegale Nationalsozialisten in Österreich dieses Buch kaum kannten. Zwischen 1933 und 1938 war Hitlers Buch in Österreich verboten und schwer zu bekommen.

Tönende Wortfassaden.
Zurück zur Besprechung von Stefan Grossmann in der „Neuen Freien Presse“ von 1925. Grossmann stammte aus einer jüdischen Familie und wurde in der Weimarer Republik berühmt als Gründer der Zeitschrift „Das Tage-Buch“, für die Größen wie Thomas Mann und Robert Musil schrieben. Gelegentlich verfasste er auch als freier Kulturjournalist für die „NFP“ Texte, seine Besprechung von „Mein Kampf“ erregte Aufsehen und wurde später als erschreckend prophetisch bezeichnet. Grossmann hat Hitler selbst in Münchner Bierkellern reden gehört und schildert ihn als „unansehnlichen, kaum mittelgroßen Menschen“ mit Basedow'schen Augen, dessen hypnotische Wirkung als Agitator für jeden Menschen von klarem Verstand nicht nachvollziehbar sei. „Als Redner ist er von einer bodenlosen Trivialität, er hat nicht einen Funken Humor, nicht ein bisschen Talent zur Antithese oder zur Pointe, sein Pathos, das stundenlang dauert, ist nicht gegliedert und nicht aufgebaut.“

Grossmann durchschaut bereits, dass hinter den tönenden Wortfassaden die Sorge des Halbgebildeten vor dem Zweifel des Lesers an seiner intellektuellen Kompetenz verborgen ist, der Autor sei von „einem pathologischen Ichgefühl beherrscht, das ja das Merkmal so vieler Minderwertiger“ sei. Nur „Klischeeredensarten“ finde der Autor für seine Jugendzeit in Wien. Hitler schreibe an einer Stelle, „Ich las damals unendlich viel und gründlich“, aber er nennt nicht ein einziges Buch, das Eindruck auf ihn gemacht hätte, ein paar Seiten später wiederum liest man: „Ich war abends todmüde, unfähig in ein Buch zu sehen, ohne einzunicken.“ Fünf Jahre – so Grossmann – habe Hitler ab seinem 15. Lebensjahr als Bauarbeiter (Anstreicher und „Ziegelschupfer“) hart gearbeitet und er spricht von der „schwersten rechtschaffensten Zeit“ des Heranwachsenden. Hier irrt der Rezensent gewaltig: Hitlers soziale Kontakte in den mehr als drei Jahren im Männerheim in der Meldemannstraße beschränkten sich auf verkrachte und heimatlose Existenzen, zwielichtige Gestalten und Arbeitslose, über Bauarbeiter schrieb der arbeitsscheue Herumtreiber voll Verachtung.

Der Anstreicher.
Hitler zählte sich zu den „Studierten“ und keineswegs zu den Arbeitern, er nannte sich „akademischer Maler“, für den Rezensenten Grossmann ist er ein gewöhnlicher „Anstreicher, der sich seiner Arbeit schämt“ und daher immer wieder auf seine höhere Mission verweist. Das Wort Anstreicher, das Grossmann hier verwendet, hat in der Kennzeichnung Hitlers noch eine große Karriere erfahren: Bertolt Brecht nennt in seiner Lyrik Hitler durchgängig den Anstreicher (etwa: „Der Anstreicher Hitler / Hatte bis auf Farbe nichts studiert“), an einigen Stellen lässt Brecht sogar den Namen Hitler weg, so eindeutig war die Bezeichnung geworden. Der Dichter schlachtet hier also das populäre Missverständnis aus, Hitler habe wirklich jahrelang als Tapezierer am Bau gearbeitet, dem auch Grossmann unterliegt. Nach dem Krieg wurde das von Erich Kästner aufgegriffen: „Immer wieder kommen Staatsmänner mit großen Farbtöpfen des Weges und erklären, sie seien die neuen Baumeister. Und immer wieder sind es nur Anstreicher.“ Rudolf Augstein kritisierte im „Spiegel“ 1965 die Bezeichnung Hitlers als Anstreicher als verniedlichend und unkritisch.

Als wichtigstes Erlebnis auf seinem Weg zum glühenden Antisemiten schildert Hitler in „Mein Kampf“ die Begegnung mit einem Ostjuden in Wien. Das hätte ihn zum Reflektieren gebracht, von nun an erschien ihm Wien in einem anderen Licht als vorher. „Wo immer ich ging, sah ich nun Juden.“ Eine Schlüsselszene. Dem Buch geht es nicht um die wahrheitsgetreue Aufarbeitung der eigenen Vita – Hitler kannte den Antisemitismus bereits aus Politikerreden und Zeitschriften –, sondern es ist eindeutig als eine politische Propagandaschrift zu lesen, „als die Entwicklungsgeschichte eines germanischen Führers, der immer recht hat und in seiner Jugend schon den rechten Weg fand“ (Brigitte Hamann). In den Worten des „NFP“-Rezensenten: „Er verschwendet keinen Blick in die eigene Brust . . . spricht er von sich, so ist er nur bemüht, sich zu romantisieren, . . . er vertuscht die Realitäten seines Lebens, um sich interessant zu machen.“ Vor allem aber sei er einer von den „besoffenen Soldaten, die noch immer nicht Frieden geschlossen haben“, diese „Hysterie des armen Teufels“, der immer noch irgendwie im Schützengraben liege, habe ansteckende Wirkung auf seine Gefolgschaft gehabt. Und wer das noch immer nicht verstanden habe, sollte nach Grossmann das Buch „Mein Kampf“ lesen, denn: „Dieses Buch zeigt Adolf Hitler, wie er ist, arm an Herz, unwissend, eitel, vollkommen phantasielos, und als Milderungsgrund lässt sich nur anführen, dass er offenbar ein unheilbarer Kriegshysteriker ist.“

DIE Edition

Adolf Hitler

»Mein Kampf«, Zwei Bände, 1924–1926

Am 31. Dezember 2015, 70 Jahre nach Hitlers Todesjahr, erloschen die Urheberrechte an dessen Buch „Mein Kampf.“ Das deutsche Institut für Zeitgeschichte kündigte für den 8. Jänner 2016 eine wissenschaftlich kommentierte Gesamtausgabe an (ca. 2000 Seiten mit farbigen Abbildungen, 59 Euro, Eigenverlag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin).

Bald nach dieser Ankündigung setzte die Diskussion um die Zulässigkeit einer solchen Ausgabe ein.
APA,Scherl/picturedesk.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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