Die Schnipsel der Vergangenheit

Eva Lapido schreibt über die Geheimnisse der deutschen Wende.
Eva Lapido schreibt über die Geheimnisse der deutschen Wende.(c) Dominik Butzmann
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Eva Lapido hat mit "Wende" einen politischen Roman mit Thriller-Elementen geschrieben, in dem die Nachwehen des Mauerfalls bis heute zu spüren sind.

René Hartenstein hat es geschafft: Als Einziger aus seiner Familie hat er im wiedervereinten Deutschland den Sprung von Ost nach West gemeistert ohne auf die Nase zu fallen, hat Jus studiert und eine vielversprechende Karriere in der Atomwirtschaft begonnen. Er fährt einen Audi, hat eine vorzeigbare Freundin aus gutem westdeutschen Haus, verdient gut und denkt nicht allzu viel nach. Bis Deutschland nach der Katastrophe von Fukushima den Atomkraftausstieg fixiert, Hartensteins Abteilung aufgelöst wird und sein Kollege unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt. Durch Zufall stößt der junge Jurist auf einen undurchsichtigen Fonds mit Sitz in London, dessen deutsche Chefin gefährliche Geheimnisse aus der Zeit der Wende hütet.

„Wende“ ist der erste Roman der deutschen Journalistin Eva Ladipo. 1974 geboren, studierte Ladipo unter anderem in Cambridge, promovierte über das russische Steuerrecht, arbeitete bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Financial Times“ und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in London. Der Titel mag simpel sein, doch dahinter verbirgt sich eine ganze Menge: Was als Krimi beginnt, wandelt sich sehr bald zu einem politischen Roman, der den Finger auf einige offene Wunden während und nach der Wende legt.

Ungesühnte Verbrechen. Vor allem geht es Ladipo dabei um die Dinge, die in den elf Monaten zwischen dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung geschehen sind: eine Blütezeit für bis heute ungesühnte Verbrechen, in der Ostdeutschland praktisch ein gesetzloser Staat war. In diese Zeit fallen auch die panischen Versuche der ostdeutschen Stasi, alle Beweise für ihre Machenschaften zu vernichten: mit Reißwölfen, die aus dem ganzen Land in die Stasi-Zentrale gekarrt wurden, mit Kollermaschinen, die Papier zu Brei verwandelten und – als alle diese Geräte schließlich überhitzten oder verklebt waren – schließlich per Hand. 45 Millionen Seiten wurden von Mitarbeitern in kleine Schnipsel zerrissen, und zwar nicht nur ein-, sondern acht- bis 30-mal pro Seite. „So was machen nur die Deutschen“, meint die türkischstämmige Staatsanwältin Hadice, die ihrem Exgeliebten René Hartenstein bei seinen Recherchen behilflich ist. Als Wissenschaftler eine Maschine entwickeln, die die Schnipsel wieder zu Dokumenten zusammensetzen kann, drohen viele Geheimnisse ans Licht zu kommen.

René Hartenstein interessiert sich vor allem dafür, ob diese Entwicklung Auswirkungen auf die Chefin des Londoner Finanzfonds LSK haben könnte, Anna Smoktun, die wie Hartenstein aus dem Osten Deutschlands stammt. LSK macht seit einigen Jahren mit traumwandlerischer Sicherheit Gewinne mit Investitionen auf dem Energiesektor und will Hartenstein anwerben.

Der junge Jurist möchte nach seinem Reinfall mit der deutschen Atomwirtschaft allerdings nicht schon wieder auf ein unsicheres Pferd setzen. Er braucht den Job dringend – nicht nur, um seine halb kriminelle Sippe im Plattenbau über Wasser zu halten, sondern auch, um wenigstens finanziell vor der Familie seiner Freundin bestehen zu können. Für die ist der „Straßenköter“ aus Thüringen ohnedies ein rotes Tuch. Was als Hintergrundrecherche begonnen ist, wird für René Hartenstein allerdings zur Obsession. Obwohl ihm bald klar wird, was die zahlreichen blinden Flecken in Smoktuns Biografie bedeuten, schafft er es nicht, sich von ihr zu distanzieren. Hartenstein dringt immer weiter auf gefährliches Terrain vor, auf dem ihn letzten Endes nur noch seine Mentorin beschützen kann. Falls sie sich dafür entscheidet.


Brisante Themen. Eva Ladipo lässt sich in „Wende“ kaum ein brisantes Thema entgehen, wobei sie immer wieder gegen die herrschende Lehre anschreibt: die Grünen und ihre Einstellung zur Atomindustrie, das Leben in den neuen deutschen Bundesländern, die nach wie vor bestehenden Vorurteile von West gegen Ost. Das stellt den Roman sehr breit auf, überfrachtet ihn teilweise auch. Dem eingängigen Stil und geschickt aufrechterhaltenen Spannungsbogen verdankt es „Wende“, dass man trotzdem gern bei der Sache bleibt.

Neu Erschienen

Eva Lapido
„Wende“
Picus-Verlag
328 Seiten
22,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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