Psychiaterin alarmiert: Missstand bei Gutachten

Psychiaterin Sigrun Roßmanith warnt vor Sparkurs der Justiz: Risikopotenzial wegen „Bauchbefunden“.

WIEN (m.s.). Sie ist viel beschäftigte Gerichtspsychiaterin; nun schlägt sie nach Kritik der Kriminalpolitischen Initiative an der Qualität von Gerichtsgutachten (siehe Bericht oben) ihrerseits Alarm: Sigrun Roßmanith pflichtet der KI bei, dass in Österreich viele Befunde nur oberflächlich erstellt würden („Bauchprognosen“).

Sie selbst lasse es sich zwar nicht nehmen, moderne „Prognoseinstrumente“ einzusetzen, allerdings werde dieser Aufwand weder geschätzt noch bezahlt. „Eigentlich interessiert niemanden, wie viel Arbeit ein qualifiziertes Gutachten kostet. Meine umfassende Gesamtbefundung wird nicht gezahlt, da wir forensischen Psychiater einen Pauschaltarif haben. Es ist eigentlich gleich, ob Sie fünf Minuten oder zehn Stunden untersuchen, ob Ihr Gutachten auf einer Augenblicksbegutachtung oder einer umfassenden Gesamtbefundung beruht. Es muss halt irgendwie nachvollziehbar sein.“ Psychiatrische Gutachten werden nach Fixtarifen verrechnet, ein gängiger Satz beträgt 195,40 Euro. Außerdem zäume die Justiz das Pferd beim Schwanz auf, lege keinen Wert auf „hoch qualifizierte Erstbegutachtung von Tätern“. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Mann mit Alkoholproblemen und emotional instabiler Persönlichkeit ersticht seine Vorgesetzte im Streit. Nach der Tat nimmt er ihre Handtasche an sich.

Raubmörder oder Fetischist?

Er wird wegen Raubmordes verurteilt, aber nicht in einer Anstalt untergebracht. Als er vorzeitig entlassen werden soll, wird ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Erstmals spricht der Täter über seine sexuell abnormen Fantasien und gibt an, die Tasche der Ermordeten nicht zur Bereicherung, sondern aus fetischistischen Motiven an sich genommen zu haben. Eine Anstaltseinweisung ist nicht mehr möglich, der Mann blickt seiner Entlassung entgegen. Hätte man vor seiner Verurteilung umfassend begutachtet, wäre er wohl längst in Therapie gekommen.

Roßmanith: „Das Rückfallrisiko bei besonders gefährlichen Straftätern wird durch mangelhaftes Vorgehen bei Beurteilung der künftigen Gefährlichkeit erhöht.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2009)

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