Korsika: Einsame Spitze

Sonnenverbrannte Berggipfel, türkisfarbenes Meer und der betörende Duft der Macchia – unterwegs am menschenleeren Cap Corse.

Am windgeschützten Minihafen von Erbalunga werkeln zwei alte Männer an ihrem hölzernen Fischerboot. Aus dem gemauerten Dorfbrunnen nebenan, der früher die Lebensader von Erbalunga war, aber heute nur mehr zur Zierde dient, plätschert glasklares Quellwasser. Eine magere Katze döst auf den Dachziegeln eines niedrigen Häuschens. Am Dorfeingang lädt ein Mann in fleckigen Arbeitshosen Brennholz von einem Lastwagen auf eine rostige Schubkarre um, denn die verwinkelten Gassen von Erbalunga sind selbst für schmale Autos viel zu eng. Unterdessen hämmern die beiden Alten auf eine morsche Planke ein. Beide sind eher rund und kleingewachsen. Auf ihren kahlen Schädeln sitzen Schiebermützen, über die ansehnlichen Kugelbäuche wölben sich dicke, zerschlissene Wollpullover. Ab und zu, wenn einer vorbeikommt und es offenbar etwas Wichtiges zu besprechen gibt, unterbrechen die Männer ihre Arbeit am Fischerboot. Dann verschwindet der Dritte in seinem Haus um die Ecke, die beiden Männer hämmern weiter an ihrem Boot herum – doch alles geschieht hier am Cap Corse ohne Eile, mit der stoischen Ruhe von Menschen, die wissen, dass jede Hast vom Teufel kommt und sogar der liebe Gott die Welt nicht an einem, sondern in sieben Tagen erschaffen hat.

Weg der Zöllner. Nur eine Touristengruppe in Trekkingoutfit ist nervös und fragt sich, wo Luis Azara die ganze Zeit steckt? Man hatte den Flecken hinter Bastia als Treffpunkt mit dem Wanderführer vereinbart, um anschließend gemeinsam über den historischen „Weg der Zöllner“ bis auf die äußerste Spitze des Cap Corse hinaufzuwandern, das wie ein vergessener Wurstzipfel ganz im Norden von Korsika ins Tyrrhenische Meer ragt. Keiner aus der Gruppe ist Luis Azara je begegnet. Plötzlich fällt jemandem ein, dass der Korse am Telefon vor Sturm gewarnt hat, sodass an diesem Tag eine Tour entlang der Steilküste eventuell gefährlich werden könnte. Tatsächlich biegen sich die Palmkronen rund um den Hauptplatz des idyllischen Dorfs unter heftigen Böen. Schwere Brecher donnern gegen die Mole, draußen auf dem aufgewühlten Meer liegt ein aschgrauer Schleier – er stammt von den Wellenkämmen, die der Wind wie Schneefahnen vor sich herjagt.

Sollte es sich der Wanderführer vielleicht anders überlegt haben? Dann könnte man in Erbalunga eine Weile bleiben. An den Hauseingängen ranken Weinreben empor. Rosen und Oleander blühen in bauchigen Tontöpfen. Die Frühlingssonne wirft auf das Natursteingemäuer des Wachturms, der sich über einem basaltschwarzen Felsen erhebt, einen matten, hellroten Glanz, dahinter schimmern die schneeweiße Brandung und das Meer. Als sich schließlich doch ein Mann mit schwarzer Sonnenbrille, hellen Turnschuhen und einem grellbunten Trainingsanzug vor den wanderfreudigen Touristen aufpflanzt, ist klar, dass die Tour trotzdem stattfinden wird. Luis Azara verstaut die Rucksäcke auf den hinteren Sitzreihen eines verbeulten Minibusses, die Gäste klettern auf die freien Plätze.

Während er zügig die Kurven nimmt, erzählt der tiefbraun gebrannte 51-Jährige vom Leben an diesem einsamen Zipfel von Korsika. Etwa 10.000 Bewohner zählt das Cap heute, im Sommer sind es vielleicht noch einmal so viele, die wachsende Touristenschar, die es vor allem zum Radfahren und Wandern herzieht, nicht dazu gerechnet. Der große Bevölkerungsschwund auf der Insel begann mit dem Ersten Weltkrieg. Korsika, erzählt Luis Azara, hatte doppelt so viele Gefallene als das französische Festland. Dann kam noch einmal Krieg, danach mehrere Auswanderungswellen. Nach Australien, nach Nord- und Südamerika – überallhin zogen die Arbeitsemigranten, um für ein paar Wochen im Sommer, ganz bestimmt aber zum Schluss zurückzukehren.

Von Heimweh geplagt reservieren sich viele Auslandskorsen ihren Platz in der Familiengruft schon Jahrzehnte im Voraus. Und wer im Ausland ein Vermögen erwarb, wollte es den Daheimgebliebenen auch beweisen: Links und rechts der Küstenstraße in Richtung Kapspitze thronen die „maisons d’americains“, pompöse Villen der Neureichen, malerisch auf den Hügelkuppen. Luis Azara selbst kann sich über Einsamkeit nicht beklagen. In zwei Ehen hat er fünf Kinder gezeugt. Die dritte Frau, mit der er gerade zusammenlebt, werde zwar erst 27, doch auch sie mache sich bereits Gedanken über eigene Kinder. „Wir kommen alle wunderbar miteinander aus“, versichert der 51-Jährige – und lässt vermuten, dass sich eine gewisse Ruhelosigkeit in seinem Leben genetischen Ursachen verdanke. „Die Azaras haben Korsarenblut in den Adern. Im 18. Jahrhundert waren wir auf unseren Kaperzügen im ganzen Mittelmeer unterwegs.“ Früher studierte Luis Azara einmal Jus in Marseilles. Doch besser gefällt dem Nachfahren eines Korsarengeschlechts das Leben in der freien Natur. Deshalb arbeitet er heute hauptberuflich als Wanderführer auf seiner Heimatinsel. Nebenbei organisiert er Mountainbikerennen und Abenteuercamps für Jugendliche.

Geduckte Fischerhäuser. Vor dem Gebäude der Hafenpolizei von Macinaggio parkt Luis seinen Minibus. Geduckte Fischerhäuser reihen sich um den sichelförmigen Naturhafen. Segel- und Fischerboote dümpeln auf dem Wasser, im Hintergrund erhebt sich schroff und kantig der 1300    Meter hohe Monte Stello. Schwarze Baumskelette an den steilen Flanken zeugen von den verheerenden Waldbränden, die beinahe jeden Sommer auf Korsika wüten. Nicht selten sollen Brandstifter am Werk sein, die sich durch das Abfackeln des pulvertrockenen Gestrüpps billiges Bauland versprechen. Es ist zehn Uhr vorbei, als die Wanderer ihre Rucksäcke schultern. Sie folgen einem hölzernen Schild mit dem Richtungspfeil des „sentier des douaniers“ – und gleich sind sie dort, wo das wilde, ungebändigte Herz von Korsika schlägt. Als schmales Endlosband mäandert der Pfad durch die Macchia. Das Meer zur Rechten, arbeitet sich die Gruppe durch mannshohes Dickicht. Zartrosa leuchten die grau behaarten Zistrosen, immer wieder hängt goldgelber, stacheliger Ginster über die Wegmitte herein und zwingt zu Ausweichmanövern. Die weißen Blüten der Baumheide duften honigsüß. Jetzt im März hat die Macchia ihr buntes Frühlingskleid angezogen und verströmt ein intensives Aroma. Sobald sich ein Windhauch regt, glitzern die harten, von einer Ölschicht überzogenen Blätter des Erdbeerbaums silbrig im Gegenlicht.

Die Wanderer trotten schweigend dahin, nur die Wellen, die unermüdlich an das felsige oder kiesbedeckte Ufer klatschen, begleiten sie mit ihrem monotonen Klang. In einer fast windstillen Bucht versinkt man bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln in einem Teppich aus modrigem Seegras. „Weg der Zöllner“ heißt der vor einigen Jahren ausgeschilderte Pfad zur Kapspitze hinaus, weil auf ihm einst die Vertreter der Staatsgewalt in jenes unkontrollierbare Gebiet vorgedrungen sind, in dem sich Schmuggler und Briganten versteckt gehalten haben. Zwielichtigen Gestalten wird hier der heutige Wanderer nicht mehr begegnen. Trotzdem sollte man die Tour von Macinaggio nach Barcaggio nicht unterschätzen. Denn das andauernde Auf und Ab während des gut sechsstündigen Marschs zehrt an den Kraftreserven. Scheinbar unverändert fern hockt der Genueser Turm von Sainte Marie auf der nächsten oder übernächsten Klippe. Erst am späten Nachmittag ist das halb verfallene Gebäude endlich erreicht. Es klebt in spektakulärer Panoramalage auf einer Felskanzel über dem mittlerweile etwas besänftigten Meer.

Griechen und Etrusker. Mit solchen Bollwerken kontrollierten die Genueser ab dem 13.  Jahrhundert die strategisch wichtige Insel. Vorher hatten Griechen, Etrusker, Römer und Sarazenen geherrscht. Erst seit 1768 gehört das von hohen Gebirgsketten durchzogene Korsika zu Frankreich. Die Erfahrung wechselnder Fremdherrschaft ließ die Insulaner rebellisch und misstrauisch werden. „Korsika den Korsen“ lautet die Parole, die man überall auf der Insel an Mauern und Hauswänden lesen kann. Am Cap Corse, sagt Luis Azara, gelte noch immer das ungeschriebene Gesetz, dass ein Korse sein Land nicht an Fremde verkauft – trotz teilweise horrender Summen, mit denen Spekulanten die Grundeigentümer locken. So fehlen hier bislang die monströsen Bettenburgen, die Korsikas Süd- und Ostküste verschandeln. Viel lieber lassen die Capbewohner ihre Felder verwildern, womit sie am Ende vielleicht gar nicht so unrecht haben.

Dass die Verbuschung am Nordzipfel Korsikas rapide voranschreitet, können die Wanderer am nächsten Tag feststellen. Bei strahlendem Sonnenschein sind sie zeitig in Castiglione aufgebrochen. Luis Azara, der zurück in sein Büro in Bastia musste, hat die Tour auf den Monte Liccioli vorgeschlagen: wegen des grandiosen Fernblicks, und weil es dort oben noch ruhiger und einsamer als auf dem Küstenpfad sei, wo man ab und zu auf einen Bauern oder andere Wanderer treffen kann. Auf dem Weg zur Torra di Seneca, dem Ort, an dem der römische Philosoph Seneca seine Verbannungsjahre verbracht haben soll, kommt die Gruppe an Dörfern vorbei, in denen es nur mehr eine Frage der Zeit ist, bis der Letzte das Licht ausmacht. Gespenstisch ragt inmitten der Macchia eine Kirche empor. Aus dem löchrigen Schieferdach wachsen Korkeichen. Im Weiler rund um das Gotteshaus harrt während der Wintermonate nur noch ein resignierender Achtzigjähriger aus.

Tausendjährige Kiefern. In diesem wildesten Teil Korsikas kann man überall dasselbe Bild entdecken. Ein Großteil der Häuser, meist niedere Natursteingebäude mit Fenstern wie Schießscharten, wurde offenbar schon vor Jahrzehnten von seinen Bewohnern verlassen. Die Trockenmauern rund um die verwaisten Häuser sind eingestürzt, auf den brachliegenden Äckern, wo Weintrauben und Oliven heranreiften, breitet sich Wildwuchs aus. Überragt wird die Neowildnis von mächtigen Kastanienbäumen. Früher dienten die knorrigen Riesen der armen Inselbevölkerung von Korsika als Grundnahrungsmittel. Doch die Zeiten von Hunger und Not sind gottlob auch am Cap Corse Vergangenheit. Und da sich um die Bäume niemand mehr kümmert, sterben sie nach und nach ab. Mehr als die Hälfte des bebaubaren Landes auf Cap Corse, schätzte am Tag zuvor Luis Azara, wurde seit seiner Kindheit aufgegeben – hier, am Fuß des Monte Liccioli, hat es den Anschein, als ob es weit mehr wäre.

Es ist kurz vor Mittag. Wir stiefeln über den bizarr gezackten Grat auf den Gipfel des Monte Liccioli zu. Neben borstigen Gräsern behaupten sich in den felsigen, stets windumtosten Höhen nur die widerstandsfähigen Schwarzkiefern, die selbst dem Feuer trotzen und mitunter 1000 Jahre alt werden. Außer uns ist hier keiner unterwegs – über unseren Köpfen wölbt sich ein wolkenloser Himmel, kreist ein Bussard. Wilder Rosmarin verströmt sein würziges Aroma, wenn man ihn zwischen den Fingern zerreibt.

Der anstrengende Aufstieg wird mit einer fantastischen Aussicht belohnt. Zu beiden Seiten breitet sich das Meer aus – unmöglich, das permanent wechselnde Farbenspiel zwischen dunklen, fast schwarzen Blautönen und einem wie hingehauchten Smaragdgrün zu beschreiben. Ganz im Osten schwimmen die italienischen Inseln Capraia und Elba wie Riesen mit dicken, aufgeschwollenen Bäuchen im flimmernden Licht. Im Süden, in den schattigen Rinnen des Monte Stello, gleißen noch die Schneereste des letzten Winters. Die majestätischen Berge, die Stille hier oben und die scheinbar endlose Weite lassen uns verstummen. Eigentlich seltsam, dass man die schönsten Erlebnisse beim Wandern auf Korsikas Nordspitze mit niemandem teilen muss. Und wie wunderbar, dass einem dieses Glück einfach so zuteilwird.

Tipps

Anreise
Ab April ab Wien direkt nach Bastia mit
Eurowings ab 100 Euro, mit Germanwings ab
120 Euro, mit Austrian hin via Stuttgart, retour direkt ab 181 Euro. In die Städte an der Küste gelangt man mit der Bahn, nach Gaeta dauert es zwei Stunden.

Essen/Unterkunft
Hotel Restaurant La Corniche Preise im Doppelzimmer zwischen 56 und 89 Euro. Das Restaurant bietet korsische Spezialitäten. 20200 San Martino di Lota, Haute-Corse. hotel-lacorniche.com

Hotel U Libecciu Macinaggio, Cap Corse. Preise im DZ: 70 bis 115 Euro. u-libecciu.com

Luis Azara bietet u. a. Aktivitäten wie Canyoning, Kajak- oder Reittouren an. Objectif Nature, Louis Azara, 3, Rue Notre-Dame de Lourdes, Bastia. objectif-nature-corse.com

Info

Rhomberg Reisen
Ferienmesse Stand A: A0821
Eisengasse 12, A-6850 Dornbirn, Tel.: +43/(0)5572/24 20-0, Fax: +43/(0)5572/560 56-9

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