Der große Frust im Maghreb

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FILES-LIBYA-ARAB-POLITICS-RIGHTS-CONFLICT-REVOLUTION(c) APA/AFP/COLIN SUMMERS
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„Wir sind ein reiches Land mit einer armen Bevölkerung“, heißt es in Algier. Jeder Dritte der unter 30-Jährigen will nichts wie weg – neuerdings am liebsten nach Deutschland.

Kairo. Hinsichtlich der Vorgänge in Köln blieb Algeriens Presse ausgesprochen einsilbig. Hätte nicht die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, das brisante Thema mit dem diese Woche zufällig nach Berlin gereisten Ministerpräsidenten, Abdelmalek Sellal, angesprochen, hätten Algeriens Leser über das Treiben ihrer jungen Landsleute in der Silvesternacht wohl nichts erfahren.

Allein im Dezember beantragten 2300 Algerier in Deutschland Asyl, aus dem Nachbarland Marokko waren es sogar 3000 – ein signifikanter Anstieg und weit mehr als im gesamten Vorjahr 2014, in dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lediglich 4000 Menschen aus diesen beiden nordafrikanischen Ländern registrierte.

Denn bevor im letzten September die große Völkerwanderung gen Deutschland über den Balkan begann, versuchten junge Algerier, vor allem nach Frankreich oder Italien zu kommen. Wie auch die zwei Dutzend jungen Leute, die die algerische Küstenwache kürzlich in der Bucht vor Annaba in ihrem Schlauchboot aufbrachte und aus dem winterlichen Mittelmeer fischte. Man könne nicht anständig leben in einem Land, „in dem Korruption, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot grassieren und in dem man nicht heiraten kann“, erklärten die jungen Männer einem Reporter der Zeitung „El Watan“.

70 Prozent jünger als 30 Jahre

So wie die gescheiterten Bootsflüchtlinge denken viele im Land. Knapp 70 Prozent der 39 Millionen Algerier sind jünger als 30 Jahre. Und jeder Dritte von ihnen will nur noch eines – nichts wie weg. „Die Bilanz meines Lebens ist absolut negativ. Ich bin ohne Arbeit und ohne Wohnung. In Algerien sind sogar Ärzte und Ingenieure arbeitslos“, sagte einer aus der Gruppe. Dreimal habe er bereits die Überfahrt probiert. Jedes Mal wurde er von der Küstenwache erwischt. „Aber ich werde nicht aufgeben und mein Glück erneut versuchen“– wie viele Altersgenossen aus Marokko und Tunesien auch.

Anders als im ölreichen Algerien jedoch zieht es junge Marokkaner und Tunesier auch zum Islamischen Staat. Bezogen auf die Einwohnerzahl liegen Tunesier unter den zugereisten arabischen IS-Jihadisten an der Spitze – gefolgt von Saudiarabien und Marokko. 5000 von ihnen kämpfen in Syrien und im Irak. Weitere 12.000 wurden bisher an der Ausreise gehindert. Auffallend viele stammen aus Mittelklasse-Familien, waren Studenten, angestellt im öffentlichen Dienst oder hatten gut bezahlte Berufe im Privatsektor. „Die Armen wollen nach Europa, die Bessergestellten gehen nach Syrien – das ist besonders beunruhigend“, erläutert Mohamed Iqbal Ben Rejeb, Gründer von Ratta, einer Organisation, die tunesischen Familien hilft, ihre Söhne aus Mesopotamien zurückzuholen.

Algerien ist die reichste unter den drei Maghreb-Nationen, doch seine Bodenschätze werden von einer Nomenklatura von rund 500.000 Leuten verprasst. 97 Prozent der Deviseneinnahmen hängen von Öl und Gas ab, eine nennenswerte Industrie gibt es nicht. Korruption, Staatsmafia und autoritäre Bürokratie bilden einen flächendeckenden Filz. „Wir sind ein reiches Land mit einer armen Bevölkerung“, sagen die Leute.

In der Hafenstadt Oran gibt es kaum ein Wohnhaus in halbwegs ansehnlichem Zustand. Ein Viertel des Volkes lebt in Not, die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei elf Prozent, bei den Jüngeren sogar bei 25 Prozent. Eine Million vegetiert bei Minilöhnen in staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogrammen – ohne Aussicht auf eine feste Anstellung, ein ordentliches Gehalt und die Chance, eine Familie zu gründen.

10.000 Proteste im Jahr

Der frustrierte Nachwuchs liefert sich ein erbittertes Katz-und-Maus-Spiel mit der allgegenwärtigen Staatsgewalt. 10.000 Proteste registriert die Sonderpolizei mittlerweile im Jahr. „Alle leiden, nur die Mächtigen führen ein Leben in Saus und Braus“, sagen die Demonstranten. Der 78-jährige Präsident, Abdelaziz Bouteflika, der trotz zweier Schlaganfälle 2014 zum vierten Mal wiedergewählt wurde, ist seit drei Jahren nicht mehr öffentlich aufgetreten. Er sitzt im Rollstuhl und kann kaum sprechen. Gelegentlich erhält die Regierung Briefe aus dem Amtssitz. Aber niemand weiß, inwieweit der Präsident noch bei Sinnen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)

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