Neuromythen. Über das menschliche Gehirn kursieren viele falsche Vorstellungen. Oft sind sie verbunden mit Empfehlungen, wie wir lernen sollen. Der Grazer Psychologe Roland Grabner räumt mit weit verbreiteten Irrtümern auf.
Wie viel wissen wir eigentlich über das menschliche Gehirn? „Nur sehr wenig“, sagt einer, der sich ständig damit beschäftigt. Roland Grabner ist Begabungsforscher an der Uni Graz. Er untersucht, wie sich Menschen in ihren Talenten unterscheiden und wie sich diese bestmöglich fördern lassen. Das Interesse an den Neurowissenschaften ist groß, allzu oft würden bestehende Wissenslücken jedoch mit falschen Interpretationen gefüllt.
„Wenn Fragen besonders komplex sind, suchen die Menschen nach einfachen Antworten“, sagt Grabner. So entstehen sogenannte Neuromythen: weit verbreitete Fehlvorstellungen über das Gehirn.
„Mythen sind zwar mitunter amüsant, sollten aber nicht als Grundlage für Entscheidungen, etwa wie Unterricht gestaltet wird, dienen“, sagt der Forscher, der auch eng mit Lehrern zusammen arbeitet. Für die „Presse“ zeigt er fünf besonders gängige Fehlmeinungen über das Gehirn auf.
1Die beiden Hirnhälften erklären Unterschiede bei Begabungen.
Dass das Gehirn aus zwei Hälften besteht, verlockt wohl zur Annahme, dass diese Trennung beim Lernen zu berücksichtigen ist. Schließlich sitzt ja in der linken Gehirnhälfte das analytische Denken und in der rechten die Fähigkeit zu kreativen Leistungen. Tatsächlich sind die beiden Gehirnhälften über mehr als 250 Millionen Nervenfasern miteinander verbunden und tauschen permanent Informationen aus. Wir lernen also immer mit beiden Seiten. Und selbst wenn wir nichts tun, sind beide Gehirnhälften im Austausch.
2Wir nutzen meist nur zehn Prozent unseres Gehirns.
Weit gefehlt, denn das gesamte Gehirn ist aktiv, wenn wir denken. Bildgebende Verfahren lassen Mediziner und Psychologen heute ins Gehirn „hineinschauen“. Der Ma-gnetresonanztomograf zeigt, welche Areale durchblutet sind, also arbeiten. „Die Frage ist eher, wie effizient wir das Gehirn nutzen“, so Grabner. Dass sie ihr Gehirn nicht mehr, sondern besser nutzen, zeichnet nämlich intelligente Menschen aus. Bei ihnen zeigt sich sogar weniger Aktivität. Die gute Nachricht: Das lässt sich trainieren. Wer etwa Wissen erwirbt, fordert sich selbst. Das Gehirn stellt so mehr und bessere Netzwerke her.
3Lerntypen sind wichtig, um sich neues Wissen anzueignen.
Sind Sie eher der visuelle oder der auditive Typ? Egal, denn für das Lernen macht das – wissenschaftlich – keinen Unterschied. „Die Milliarden Menschen um den Globus sind weit unterschiedlicher als Lerntypen abbilden können. Sie lassen sich nicht in ein paar Schubladen einordnen“, sagt Grabner. Daher mache es auch keinen Sinn, Lehrpläne in Schulen danach auszurichten. Dieser Mythos scheint allerdings genau dort besonders verbreitet zu sein. Insgesamt 90 Prozent der Lehrer in verschiedenen europäischen Ländern glauben, dass Menschen besser lernen, wenn sie Informationen ihrem Lerntyp entsprechend aufbereitet bekommen. In Österreich will Grabner 2016 eine erste Befragung dazu durchführen. Nichtsdestotrotz: Abwechslungsreich sollte der Unterricht freilich dennoch sein.
4Gehirnjogging macht uns
intelligenter.
Gehirnjogging bringt zwar bessere Leistungen, aber nur in den trainierten Aufgaben. Das zeigte sich in Großbritannien in einer Studie, bei der 11.000 Menschen schlussfolgerndes Denken trainierten oder Gedächtnisübungen machten. „Wer mit der Hantel den linken Bizeps trainiert, wird nicht am ganzen Körper fitter“, veranschaulicht Grabner. Allerdings: Je älter jemand ist, desto sinnvoller ist das tägliche Sudoku oder die Gedächtnis-App, um geistig fit zu bleiben. Grabner rät, sich jedenfalls Tätigkeiten zu suchen, die Spaß machen: „Das kann auch eine Sprache oder ein Musikinstrument sein.“ Übrigens: Echtes Fitnesstraining ist genauso wichtig für das Gehirn wie Denksport. Es regt die Durchblutung und damit den Sauerstofftransport ins Gehirn an.
5Buben sind von vornherein besser in Mathematik als Mädchen.
Die Ergebnisse der Pisa-Tests nähren die Vermutung, dass Mädchen schwächer in mathematischen Fähigkeiten sind. „In asiatischen oder skandinavischen Ländern sind die Ergebnisse aber genau umgekehrt“, sagt Grabner. Vielmehr hat sich die Hypothese mehrfach bestätigt, dass sich Frauen durch die Angst vor dem eigenen Versagen stärker unter Druck setzen lassen. Und die ist kulturell geprägt. Biologisch ist die Chancengleichheit also jedenfalls gegeben.
IN ZAHLEN
1,3 bis 1,4 Kilo wiegt ein durchschnittliches erwachsenes Gehirn. Damit nimmt es zwar nur etwa zwei Prozent des Körpergewichts ein, braucht aber 20 Prozent der Energie.
250Millionen Nervenfasern verbinden die beiden Gehirnhälften über den Hirnbalken. So werden Informationen ausgetauscht.
86Milliarden Gehirnzellen hat der Mensch nach aktuellen Schätzungen, verbunden sind sie über 100 Billionen Synapsen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)