Flüchtlinge: Europa gehen die erprobten Lösungen aus

European Commission President Jean-Claude Juncker gives a news conference at the European Commission headquarters in Brussels
European Commission President Jean-Claude Juncker gives a news conference at the European Commission headquarters in Brussels(c) REUTERS (YVES HERMAN)
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Die aktuelle Flüchtlingskrise erfordert erstmals konkrete und zeitgleiche Maßnahmen – eine Herausforderung für die EU.

Brüssel. Nur drei Tage nachdem US-Präsident Barack Obama in Washington seine letzte „State of the Union Address“ gehalten hatte, trat am gestrigen Freitag Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel vor die Mikrofone, um zur Lage der Europäischen Union zu sprechen – einer Union, die in den vergangenen Monaten durch die Flüchtlingskrise in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Junckers Rede war eine eloquente, in drei Sprachen (Französisch, Englisch und Deutsch) gehaltene Verteidigung der europäischen Integration – und eine Warnung an jene, die glauben, eine Wiedereinführung von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen sei ein probates Mittel zur Kanalisierung (bzw. Eindämmung) der Flüchtlingsströme. „Der Binnenmarkt wird an seinen Grenzen scheitern“, sagte der Kommissionspräsident und bezifferte bei dieser Gelegenheit die Kosten einer Abwicklung der Schengen-Zone mit drei Milliarden Euro pro Jahr. Junckers Rechnung in diesem Zusammenhang lautet: Weniger Schengen ist gleich weniger Binnenmarkt ist gleich mehr Arbeitslose.

Wenn allerdings dieser Sachverhalt so klar ist, warum weigern sich die Nutznießer des Binnenmarkts so hartnäckig, bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise an einem Strang zu ziehen? In Mittelosteuropa ist die Bereitschaft zur Aufnahme Schutzbedürftiger mit freiem Auge nicht zu erkennen, in Griechenland funktionieren die Aufnahmezentren für Neuankömmlinge noch immer nicht, Italien weigert sich nach wie vor, der Türkei Geld zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge zu überweisen, während Dänemark die Wertgegenstände der Asylwerber requirieren möchte – und von den im Sommer vereinbarten 160.000 Umsiedlungen innerhalb der EU hat man bis dato nicht einmal 300 geschafft. Einigkeit sieht anders aus.

Hoher Abstraktionsgrad . . .

Eine Antwort auf die obige Frage lieferte Juncker gestern selbst, indem er en passant die Erfolge der EU-Kommission im vergangenen Jahr aufzählte: den Investitionsfonds für die Infrastruktur, die Energie- und Kapitalmarktunion sowie die Initiative zur Vereinheitlichung der europäischen digitalen Märkte. Allen Vorhaben ist gemein, dass sie erstens einen relativ hohen Abstraktionsgrad aufweisen und zweitens sequenziell, über einen Zeitraum von mehreren Jahren, umgesetzt werden können. Bei den benötigten Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise verhält es sich allerdings genau umgekehrt: Sie sind sehr konkret und müssen zeitgleich unternommen werden. So ist beispielsweise die Inbetriebnahme der Hotspots in Griechenland ohne ein Umdenken bei der gesamteuropäischen Verteilung nicht sinnvoll – es liegt nämlich nicht im Eigeninteresse der griechischen Regierung, alle Neuankömmlinge zu registrieren, solange sie gemäß geltendem Recht für ihre Asylanträge zuständig ist. Die Brüsseler Behörde hat dies immerhin erkannt und will im Frühjahr einen Vorschlag zur Reform des Dublin-Asylregimes vorlegen.

Was die EU in ihrer heutigen Form exzellent beherrscht, ist die Zerlegung von Problemen in kleinstmögliche Einzelteile bei gleichzeitiger Entschleunigung der Entscheidungsprozesse, um (nationale wie emotionale) Überreaktionen zu verhindern. Bis zur vorletzten, noch immer nicht ausgestandenen Krise – der Causa Griechenland – funktionierte diese beim Aufbau des Binnenmarkts jahrzehntelang erprobte Strategie relativ gut. Jetzt bleiben die Erfolge allerdings aus: So hätten die griechischen Hotspots ursprünglich Anfang Herbst etabliert werden sollen, dann wurde die Deadline auf Ende November verschoben, dann auf das Jahresende – und gestern sprach Juncker davon, dass er „konkrete Fortschritte“ bis zum nächsten EU-Gipfel am 18./19. Februar erwarte.

. . . versus Realität

Der Kommissionspräsident will jedenfalls „weitermachen“ und „nicht nachgeben“, sonst werde Europa weltweit an Glaubwürdigkeit verlieren. Der größte Schaden droht dann allerdings nicht Europa selbst, sondern dem Versprechen der EU, mit der sequenziellen Abstraktion ein wirksames Antidot gegen nationale Egoismen gefunden zu haben. Es bleibt zu hoffen, dass die Flüchtlingskrise für dieses europäische Gegengift nicht zu real ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)

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