Ob in Europa oder an US-Universitäten: Wo Opfersein zu viel Bedeutung erhält, schlägt Engagement in Passivität um, argumentiert Daniele Giglioli im Buch „Die Opferfalle“. Und plädiert für die Frage „Was tun?“ statt „Wer bin ich?“.
Im ersten Moment packt einen natürlich Entsetzen, wenn etwas wie in Köln geschieht. Erstaunlich wird es erst, wenn zwei Wochen vergehen und weiterhin Angst die Diskussion beherrscht – und das Gefühl des Bruchs. Ein paar Dutzend Männer mit Migrationshintergrund haben es geschafft, Millionen in ein Gefühl sexueller (und allgemeiner) Bedrohung zu versetzen. Als wären Europas Frauen einer Armee aggressiver Eindringlinge ausgeliefert; als gäbe es nicht funktionierende Demokratien und eine Zivilgesellschaft, die nicht ausschließlich mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt sind, sondern durchaus Zeit und Know-how haben, um in allen möglichen Formen auf ein Ereignis zu reagieren (etwa, wie von „Presse“-Kolumnistin Sibylle Hamann gefordert, mit noch viel mehr feministischer Mädchen- und Burschenarbeit, „speziell auch in konservativ-muslimischen, bildungsfernen Milieus“). Zumal dieses Ereignis so neu nicht ist, blickt man nur über die Grenzen, etwa nach Ägypten. Gleichzeitig geschieht, was schon 2012 mit dem belgischen Film „Femme de la rue“ passierte. Sofie Peeters dokumentierte darin mit einer versteckten Kamera das schockierende Ausmaß sexueller Belästigung, das sie auf den Straßen von Brüssel erlebte – und wurde mit Rassismusvorwürfen überschüttet: weil die Belästiger fast durchwegs Einwanderer aus Algerien, Tunesien und Marokko waren.
Gegen Freiheit und Mündigkeit
Zur rechten Zeit erscheint in dieser Situation ein Buch auf Deutsch, dessen Thema schon die österreichische Journalistin Kirstin Breitenfellner eindrucksvoll behandelt hat. Die Opferrolle sei die vielleicht mächtigste heute, kritisierte sie im Buch „Wir Opfer“; das behindere einen „politischen Diskurs, bei dem es um Freiheit und Mündigkeit geht“. In dieselbe Kerbe schlägt der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli mit seinem Essay „Die Opferfalle“ (Matthes & Seitz).
Nicht nur im Zusammenhang mit der NS-Vergangenheitsbewältigung ist die grassierende „Opferlust“ zum Thema geworden. Von „victimhood culture“ sprechen auch die amerikanischen Soziologen Bradley Campbell and Jason Manning, die 2014 den Umgang mit „Mikroaggressionen“ an US-amerikanischen Hochschulen untersuchten: einer übertriebenen „Opferkultur“, die Menschen dazu ermutige, sich schwach zu fühlen, und damit das Gegenteil von dem erreiche, was ursprünglich bezweckt war – nämlich dass man auf Ungerechtigkeit und Unterdrückung reagiere. Diese „Opferlust“, meint Giglioli, produziere das Gegenteil des seit Kant proklamierten mündigen Individuums: „Wenn nur das Opfer einen Wert hat, wird die Möglichkeit, sich zu einem solchen zu erklären, zu einer Kasematte. Das Opfer ist unverantwortlich, muss niemandem Rede und Antwort stehen, muss sich nicht rechtfertigen: Wunschtraum einer jeden Macht.“
Schon im Märchen gibt es, wo es ein Opfer gibt, auch einen Verfolger und einen Retter. Deswegen gebärden sich so viele Männer, die den Feminismus sonst verächtlich machen, seit Köln plötzlich als Frauenbeschützer, nur so kann der „Verfolger“ möglichst bedrohlich, der „Retter“ möglichst heldenhaft wirken. Interessant ist in diesem Zusammenhang Gigliolis Hinweis auf die Wichtigkeit des Opfers im Kriegsdiskurs. Auch die gegenwärtigen Debatten sind kriegerische Diskurse, auch hier wird darum gestritten, welche Gruppe zuerst Opfer war, wer mehr Opfer ist – und wer in ihrem Namen sprechen, seine (angebliche) Ohnmacht in Macht verwandeln darf. An die Stelle der Frage „Was tun?“ der neuzeitlichen Politik sei die wehleidige Frage „Wer bin ich?“ getreten, schreibt Giglioli. Insofern sei die Antwort „ein Opfer“ gar nicht einmal so falsch. Denn „wer sich nur noch fragen kann, wer er ist, und nicht, was er aus sich und seinen Beziehungen zu anderen machen kann, ist per definitionem ein Opfer.“
Der schuldlose Henker
In seiner berühmten Graphic Novel „Maus“ erzählt Art Spiegelman die Geschichte seines Vaters, der Auschwitz überlebte. „Maus“ ist auch eine Geschichte darüber, wie schlimm es ist, wenn ein Mensch allein durch sein Opfersein zum „schuldlosen Henker“ wird; denn der Vater, der sich als Gauner durchs Leben schlägt, ist nicht nur Opfer, er ist zugleich ein rassistischer, frauenfeindlicher, homophober Täter, der andere mit seinem Leid erpresst – mit schrecklichen Folgen für die Familie.
„Der Zustand des Opfers beansprucht eine einstimmige Antwort, aber eine einstimmige Antwort ist eine falsche Antwort“, weil sie die vielen Bruchlinien verdecke, heißt es in „Die Opferfalle“; das gilt auch für den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Das Beharren auf dem Opferstatus der Frauen in Köln tut aber genauso wenig gut, so Schlimmes sie auch erlebt haben; viel wichtiger ist, dass sie – und mit ihnen alle anderen – nun re-agieren können. „Unsere Zeit erwartet heute, dass die Opfer aus ihrer Traumatisierung, ihrer Erfahrung etwas machen“, sagte der französische Soziologe Jean-Michel Chaumont schon vor etlichen Jahren. Vielleicht blickte er auch nur hoffnungsfroh in die Zukunft.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)