Die Kluft zwischen den Mitgliedstaaten vertieft sich, bisherige Maßnahmen wurden nicht oder unzureichend umgesetzt: Wie wahrscheinlich ist eine europäische Lösung der Krise überhaupt noch?
Wien/Brüssel. Die Zeit läuft ab. Tausende Menschen passieren weiterhin täglich die Außengrenze der Union, doch eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise ist auch im Jahr 2016 nach heutigem Stand nicht absehbar. Selbst Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will sich „keine Illusionen“ über die kollektive Umsetzung wichtiger Beschlüsse machen – eine Vorahnung, die angesichts nationaler Alleingänge beim Grenzschutz und des andauernden Streits über einen gerechten Verteilungsmechanismus für Schutzsuchende die Ratlosigkeit Europas erschreckend deutlich offenbart.
Die Regierungschefs von Österreich, Deutschland und anderen hauptbetroffenen Mitgliedstaaten bitten dennoch weiter um Geduld, bis gemeinsame Lösungsansätze auf den Weg gebracht werden können. Doch wie lang wird das noch dauern? In der europäischen Bevölkerung schwindet der Glaube daran, dass der ungebremste Zustrom länger verkraftbar ist. „Die Presse“ nimmt den Status quo bei der Realisierung wichtiger Vorhaben in der Krise unter die Lupe.
Schutz der Außengrenze
Gebetsmühlenartig wiederholen europäische Entscheidungsträger die Notwendigkeit des EU-Außengrenzschutzes – und sehen dabei insbesondere Griechenland in der Pflicht: Von der Türkei kommend reisen bekanntlich die meisten Flüchtlinge über die Ägäis-Inseln in die Union ein, um via Balkanroute in ihr Wunschland zu gelangen. Wegen der chaotischen Zustände haben einige Länder wieder Kontrollen an ihren Staatsgrenzen eingeführt; Schengen droht das Aus. Um dies zu verhindern, hat die Kommission im Dezember einen Plan für einen EU-Grenzschutz vorgelegt. In Krisensituationen soll ein Team von bis zu 2500 Mann binnen dreier Tage entsandt werden können – notfalls auch gegen den Willen des betreffenden Mitgliedstaats. Unter einigen EU-Regierungen gibt es Bedenken wegen des Eingriffs in die nationale Souveränität: Der Beschluss im Rat – er soll bis Ende Juni fallen – dürfte sich also von den Vorstellungen der Kommission unterscheiden.
Kooperation EU/Türkei
Der Deal zwischen Brüssel und Ankara vom vergangenen November lautet verkürzt: Eindämmung des Flüchtlingsstroms nach Europa im Gegenzug für drei Milliarden Euro Finanzhilfe, beschleunigte EU-Beitrittsgespräche und Reiseerleichterungen für Türken in die EU. Doch bisher ist Brüssel mit der Umsetzung des Aktionsplans durch Ankara nicht überzeugt: Immer noch kämen Tag für Tag 2000 bis 3000 Flüchtlinge aus der Türkei in Griechenland an, monierte Vizekommissionschef Frans Timmermans jüngst. Die Türkei kündigte an, syrischen Flüchtlingen – derzeit befinden sich etwa 2,5 Millionen im Land – eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, um den Abwanderungsdruck in die EU zu mindern. Eine Visumpflicht für syrische Staatsbürger, die aus Drittstaaten in die Türkei einreisen, gibt es bereits. Doch auch die EU bleibt die Umsetzung mancher Zusagen schuldig: So konnten die versprochenen drei Milliarden Euro wegen Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten bisher nicht freigegeben werden; und auch eine Einigung über die Aufnahme von „Kontingentflüchtlingen“ aus der Türkei steht aus.
Aufteilung & Hotspots
Im September vereinbarten die EU-Länder gegen die Stimmen mehrerer Osteuropäer die Aufteilung von 160.000 in Italien und Griechenland gestrandeten Flüchtlingen auf die restlichen Mitgliedstaaten. Doch das Vorhaben hat kaum noch Aussicht auf Erfolg: Bisher wurden erst 272 Personen tatsächlich umgesiedelt, insgesamt haben die EU-Regierungen bei der Kommission bis zum 14. Jänner 4237 Plätze zur Verfügung gestellt. Einzig Bulgarien erfüllt mit 1302 angebotenen Plätzen den vorgegebenen Schlüssel; Österreich dürfte sich wegen der ohnehin hohen Asylwerberzahlen nicht beteiligen. Doch auch die geplanten elf Hotspots in Griechenland und Italien – sie sind die Voraussetzung für eine geordnete Flüchtlingsaufteilung – existieren großteils nur auf dem Papier. Lediglich drei sind operativ tätig: auf Lesbos, Lampedusa und im sizilianischen Trapani.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2016)