Für Europas Flüchtlingspolitik kann man sich nur schämen

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Themenbild: FlüchtlingspolitikAPA (GERT EGGENBERGER)
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Es muss doch anders gehen als mit Heuchelei, Chaos und einem peinlichen Streit ums Geld. Wie wäre es einmal mit Hilfsbereitschaft und Rationalität?

Um klar zu sehen, muss sich erst einmal der emotionale Nebel vor unseren Augen lichten. Und in der Flüchtlingskrise ist dieser Nebel dicht. Da sind nachvollziehbare Ängste vieler Menschen, dass sie der Zustrom überrollt. Da sind Bilder und Berichte von sexuellen Übergriffen in Köln und anderen Orten, die konkrete Probleme mit einem Teil der Zuwanderer offenbaren. Da sind aber auch befeuerte Vorbehalte gegenüber einer anderen Kultur und einer anderen Religion. Ängste und Vorurteile sind – wie es sich zeigt – ein schlechter Ratgeber in schwierigen Situationen, und sie fördern eher irrationale Reaktionen als gut überlegte Lösungen.

Das bisherige Krisenmanagement der europäischen Staaten hat nicht funktioniert, weil mehrere Regierungen diesen Nebel nicht haben vorbeiziehen lassen. Sie haben ihn selbst verstärkt. Sie haben zwar in Brüssel einiges in Beschlüsse gegossen und gemeinsam mit der EU-Kommission Lösungskonzepte erarbeitet. Daheim haben sie aber oft das Gegenteil getan. Ihre Priorität war nicht die Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse, sondern ein Signal an die verängstigte Bevölkerung. Gelder und Rechte für die Ankommenden wurden gekürzt, der Zugang zu Asylverfahren erschwert, bis hin zum Plan in Dänemark, diese Menschen präventiv zu enteignen. Die Verantwortlichen hoffen, wenn ihr Land ein möglichst hässliches Bild bietet, wird der Strom vorbeiziehen. In manchen Fällen ging das auf.

Die EU-Flüchtlingspolitik ist bisher nicht an mangelnden Ideen in Brüssel gescheitert, auch wenn das gern in ebendiesen Hauptstädten suggeriert wird. Es gab Pläne der EU-Kommission im vergangenen Frühjahr, die Fluchtwelle in geregelte Bahnen zu lenken: durch Hotspots an der Grenze, durch Hilfe in den Herkunftsregionen, durch gemeinsames Vorgehen gegen Schlepper und eine gerechte Aufteilung auf alle Mitgliedstaaten. Im Herbst und Winter gab es neuerlich konkrete Konzepte für die Aufteilung von 160.000 Flüchtlingen, für Hilfsmaßnahmen in den Herkunftsregionen, für einen gemeinsamen Grenzschutz. Wäre all dies konsequent umgesetzt worden, die Glaubwürdigkeit der EU wäre nicht beschädigt worden, und die meisten europäischen Länder hätten davon profitiert.

Es treibt einem die Schamröte ins Gesicht, was stattdessen geschehen ist. Statt Menschen auf der Flucht zu helfen, statt ihnen mit ausreichenden finanziellen Mitteln eine Zukunft in der nahen Nachbarschaft zu ermöglichen, statt offizielle Anlaufstellen in Nordafrika und Nahost zu errichten, damit diese Menschen nicht mehr zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken, wird seit Monaten nur noch über nationale Obergrenzen und nationale Grenzkontrollen debattiert und das gemeinsame Aufbringen von Geldern blockiert. Als Höhepunkt der Heuchelei wurde mit der Türkei ein Abkommen geschlossen, damit diese gegen viel Geld (über das natürlich auch noch gestritten wird) und die Aussicht auf einen EU-Beitritt weniger Menschen weiterreisen lässt. Heute verweigert Ankara Kriegsflüchtlingen die Einreise, schießen türkische Grenzbeamte auf illegal ankommende Syrer, und Europa dreht sich weg.

Wie wäre es mit ein paar einfachen, klaren Linien in dieser Flüchtlingspolitik? Wie wäre es mit dem Bekenntnis zur Hilfsbereitschaft? Wie wäre es mit zivilen Einsatzkräften, die ähnlich wie bei UN-Missionen in den Nachbarregionen Syriens, des Iraks und Afghanistans für die notwendigen Lebensgrundlagen, ärztliche Betreuung und Schulbildung für Kinder sorgen? Wie wäre es damit, statt Millionen in den Bau von Zäunen zu stecken, dieses Geld für den Wiederaufbau in den Kriegsgebieten zu reservieren? Wie wäre es mit der Aufstockung der Entwicklungshilfe, die über Jahre auch in Österreich gekürzt wurde? Wie wäre es mit Anlaufstellen in der Türkei, wo Menschen eine großzügig kontingentierte Aufnahme in der EU beantragen können? Es muss nicht sein, dass die zweifellos richtige Erkenntnis, Europa könne nicht all diese Menschen aufnehmen, dazu führt, dass wir unser schlechtestes Bild in die Welt projizieren.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2016)

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