Italiens G8-Gipfel im Schutt von L'Aquila

(c) AP (Alessandra Tarantino)
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Drei Monate nach dem verheerenden Erdbeben hält Italien das Treffen der acht größten Industrienationen (G8) im zerstörten L'Aquila ab. Aber was werden die Mächtigen dort wirklich sehen?

Die Via Cavour endet in einer Schutthalde. Eigentlich soll sie hinaufführen in den Ortskern von Castelnuovo; doch am Morgen des 6. April ist das Dorf die Straße heruntergekommen. Und da liegt es nun. Trümmer über Trümmer. Wären da nicht jene massiven Balkenkonstruktionen, mit denen Feuerwehrleute die letzten aufrechten Häuser zu stützen versucht haben, es sähe alles genauso aus wie am Tag der Katastrophe. Immer noch.

Menschliches Leben? Keines

Nichts zu hören, nichts zu sehen. In den Vorgärten wuchert das Gras; die letzten Artischocken der Saison erntet keiner. Doch irgendjemand hat den streunenden Katzen frisches Futter hingestellt, auf weißen Plastiktellern, den gleichen, aus denen die Dorfbewohner seit drei Monaten in ihren Zeltstädten essen. Aus dem unteren, neuen Teil des Dorfs hört man das regelmäßige Kehren eines Reisigbesens.

Mauro fegt da unten die Straße. Warum das Beben gerade sein Haus verschont hat, weiß der 50-jährige Krankenpfleger nicht. Nach den technischen Überprüfungen der vergangenen Wochen weiß er nur: Um ihn herum müssen bis auf fünf oder sechs alle Häuser abgerissen werden. Und Mauro ist jetzt schon fast der Einzige, der nach ein paar unbequemen Tagen im Zelt nach Castelnuovo zurückgekehrt ist. Doch er schläft nicht im Haus selbst, sondern in einer verglasten Pergola dahinter. Weil er immer noch Angst hat. „Erst vor zwei Nächten“, sagt er, „hat's ja wieder so furchtbar angefangen wie am 6. April. Das rüttelt dich durch, da fühlst du dich wie ein Korn, das in einem Mehlsieb tanzt.“

Und diesen zertrümmerten Ortskern vor Augen zu haben, „das ist eine Qual, jeden Tag wieder“. Mauro fürchtet, „auch wenn unsere Regierung versichert, wir tun, wir tun, wir tun – vor sechs oder acht Jahren wird hier nichts geschehen.“ Denn, so sagt er: „Von L'Aquila redet jeder; das zerstörte Onna ist ein Renommierort geworden. Da lassen sich alle filmen, die Regierung, der Papst und demnächst Barack Obama. Aber wer spricht von den 50 anderen genauso kaputten Dörfern? Wer spricht von Castelnuovo?“

Kaserne statt Luxushotel

Castelnuovo liegt am südlichen Rand des Katastrophengebiets; Coppito, 40 verwüstete Kilometer entfernt, am nördlichen. Von einer beigen Betonmauer, von Wiesen und Schrebergärten umgeben steht hier die Kaserne der italienischen Finanzpolizei. Baufahrzeuge fahren hin und her, die Lieferautos der Handwerker stauen sich vor der Einfahrt.

Doch in der Kaserne gibt es keinerlei Erdbebenschäden zu reparieren. Hier werden am 8. Juli die Großen der Welt erwartet: die Chefs der acht führenden Industrieländer, dazu die Delegationen von 30 weiteren Staaten plus Muammar al Gadhafi mit seinem Wüstenzelt. Eigentlich sollte der G8-Gipfel in einem Inselparadies vor Sardinien stattfinden, doch die Regierung von Silvio Berlusconi hat das Treffen kurzerhand ins Erdbebengebiet verlegt: Die Welt soll sehen, wie sehr es Italien getroffen hat.Nur wenige hundert Meter von der Kaserne entfernt steht das blaue Zeltdorf von Coppito. 143 dieser Sorte gibt es drei Monate nach dem Beben noch immer in den Abruzzen; 22.800 Menschen wohnen darin, 30.000 weitere leben in Hotels an der Adria. Nein, sagen sie im Zeltdorf von Coppito, beklagen können sie sich nicht: „Sie geben uns zu essen.“ „Na ja“, sagt ein alter Mann, „wenn Sie zum Klo jedesmal hundert Meter gehen müssen, auch in der Nacht.“ Und überhaupt, ergänzen zwei Frauen, „haben Sie hier keinerlei Privatsphäre, niemals.“ Wie lange das so gehen wird? Achselzucken.

Giustino Parisse bittet zum Friedhof von L'Aquila. Das Hauptportal ist wegen Einsturzgefahr gesperrt. Für die Begräbnisfeiern steht nur ein weißes Zelt zur Verfügung. Parisse ist Zeitungsjournalist in L'Aquila. Beim Beben hat er seine beiden Kinder verloren, 16 und 18 Jahre alt, aber er schreibt weiter. Reportagen aus dem ganzen Bebengebiet. In der Sakristei des Friedhofspfarrers, wo Messgewänder und Schutzhelme an denselben Haken hängen, sagt Parisse: „Es gibt bei unseren Leuten so viel Nervosität, aber keine Gewissheit, wie's weitergeht. Wir hängen in einem psychologisch ganz heiklen Zwischenzustand, einem Stand-by. Die Leute wollen zur Normalität zurück, aber das kann nicht gehen. Nach vorne geht's auch nicht, es gibt keine politische Autorität, die einen Weg zeigen würde. Die Leute haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder.“ Und dann ergänzt Parisse bitter: „Zumindest das bleibt mir erspart.“

Angst hat auch die Lokalpolitiker von L'Aquila erfasst. Stadtrat Giancarlo Vicini erzählt von der größten Sorge: Die nur mit Mühe gestoppte Abwanderung könne wieder beginnen: „Ein hier arbeitsloser Kellner, der an die Adria-küste evakuiert wurde, entdeckt, dass er dort unten mühelos einen Job kriegt, dann zieht seine Familie nach, dann fehlen uns die Kinder, dann müssen wir irgendwann Schulen schließen, dann geht alles abwärts.“ Sichere Wohnungen brauche man, so schnell wie möglich. Da trifft er sich mit Regierungschef Berlusconi, der versichert, dass kein Betroffener den kommenden Winter im Zelt verbringen muss. Holzhäuser sollen als Zwischenquartiere schon im Sommer aufgebaut werden, gleich nach dem G8-Gipfel. Bis Dezember sollen dann richtige Wohnungen für 4500 Familien errichtet sein.

Dramaturg Berlusconi

Eine Riesenbaustelle ist schon in Betrieb. Sie liegt – nicht zufällig – an der Straße ins komplett vernichtete Onna. Wenn die Mächtigen der Welt die Zerstörung besichtigen, dann kommen sie auch am Wiederaufbau vorbei. Das gehört zu Berlusconis Gipfelschauspiel.

Benefizkonzert für L'Aquila: „Die Geschichte vom Soldaten“ (Igor Strawinsky), aufgeführt von „Officina musicale L'Aquila“. 28. Juni im Congress Center Villach, 29. Juni im Volkstheater Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2009)


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