Abkommen mit EU. Türkei hielt bisher nur elf Prozent der Flüchtlinge auf, die nach Europa strebten. Regierung in Ankara beklagt Ausbleiben der Milliardenhilfe.
Istanbul. Kurz vor dem Deutschland-Besuch des türkischen Premiers, Ahmet Davutoğlu, am Freitag wird deutlich, dass die Türkei bisher nur einen kleinen Teil der Flüchtlinge aufhält, die nach Europa streben. Laut einer Bilanz der türkischen Küstenwache wurden im vergangenen Jahr rund 90.000 Menschen auf dem Weg nach Griechenland aufgegriffen – doch in Griechenland kamen im selben Zeitraum mehr als 800.000 Flüchtlinge an. Sobald der Winter vorbei ist, dürften die Flüchtlingszahlen wieder ansteigen.
Davutoğlu wird sich deshalb am Freitag bei den ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen in Berlin mit der Forderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem entschiedeneren Handeln konfrontiert sehen. Türkische Regierungsvertreter verweisen darauf, dass ihr Land jeden Tag rund 500 Flüchtlinge abfängt.
Trotz des kalten und stürmischen Winterwetters in der Ägäis kommen derzeit jeden Tag bis zu 3000 Menschen in Griechenland an; im vergangenen Sommer waren es zeitweise bis zu 10.000 pro Tag. Athen wirft insbesondere den türkischen Hafenbehörden deshalb eine Zusammenarbeit mit Menschenschmugglern vor.
Davutoğlu in Berlin
In Berlin dürfte Davutoğlu darauf verweisen, dass seine Regierung einige Verbesserungen für syrische Flüchtlinge plant. So hat das Kabinett eine Neuordnung beschlossen, nach der Syrer in der Türkei künftig arbeiten dürfen. Nach Angaben von Regierungspolitikern soll damit die illegale Beschäftigung von Flüchtlingen bekämpft werden; zudem sollen die Menschen mit dem geregelten Einkommen einen Anreiz erhalten, in der Türkei zu bleiben.
Grundsätzlich dürfen aber nur zehn Prozent der Arbeitsplätze in einem Betrieb mit Flüchtlingen besetzt werden. In strukturschwachen Gebieten könnte diese Begrenzung dazu führen, dass viele Syrer keine Arbeit finden. In Berlin wird aber nicht nur die deutsche Seite mit Forderungen auftreten. So sorgt sich Ankara um die zugesagten drei Milliarden Euro an Hilfe der EU, deren Finanzierung EU-intern umstritten ist. Der türkische EU-Minister, Volkan Bozkır, sagte, sein Land erwarte, dass die Europäer ihr Versprechen hielten. Deutschlands Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, räumte die Probleme mit der Finanzierung des Hilfspaketes ein.
Einige EU-Länder hätten der Lösung bisher nicht zugestimmt, sagte er vor der in Berlin akkreditierten Auslandspresse. Wenn die EU ihren Verpflichtungen nicht nachkomme, könne sie auch nicht von der Türkei verlangen, ihre Zusagen einzuhalten.
Auch bei den Themen Meinungsfreiheit und Kurden dürfte es in Berlin nicht nur harmonisch zugehen. Die türkisch-deutsche Kurdenpolitikerin Feleknas Uca warnte angesichts der Kämpfe im Kurdengebiet, demnächst könnten sich nicht nur Syrer, sondern auch mehrere Hunderttausend Kurden auf den Weg nach Europa machen. Sie warf der Türkei Menschenrechtsverletzungen vor. Und sie rief Merkel und die EU auf, sie sollten die türkische Regierung zu einer Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den Kurden bewegen. (güs)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2016)