Die Erinnerung an Russisch-Osmanische Kriege

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Russland dehnte sein Zarenreich im 19. Jahrhundert aus, woraus wiederholt Konflikte mit dem Osmanischen Reich entstanden. Viele Völker kämpften für und gegen die Großmächte. Die Erinnerungen daran sind daher vielschichtig.

Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte. Wenn jedoch zwei Großmächte ihre Herrschaftsansprüche an dieselben Gebiete stellen, dann wird der kleine Dritte zum Spielball der Macht. Wenn mehrere Imperien um Gebiete „spielen“, ist Chaos programmiert: So geschehen auf dem Balkan, wo im 19. Jahrhundert das alteingesessene Sultanreich der Osmanen genauso Regionen beanspruchte wie das Habsburgerreich. Zudem positionierte sich Russland als Beschützer christlicher, slawischer Völker. Selbst die Briten, die 1878 Zypern beschlagnahmten, erkannten die geopolitische Lage des südosteuropäischen Raumes: Ein Tor zwischen Orient und Okzident.

1878 ist ein Schlüsseljahr für den südosteuropäischen Raum: 1877/78 kam es zum beinah zehnten direkten Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und dem russischen Imperium. „Die politischen Umwälzungen danach sind für ganz Südosteuropa bis zu den Kaukasusregionen langfristig und einschneidend“, sagt Dominik Gutmeyr, Historiker der Südosteuropäischen Geschichte an der Uni Graz. Die Erinnerungen an diesen Konflikt halten bis heute an – wie unterschiedlich diese sind, erforschte ein internationales Team in einem von der EU finanzierten Projekt (Marie-Sklodowska-Curie-Stipendium).

Das russische Zarenreich gewann den Krieg eindeutig. Seine Armee stand vor den Toren Istanbuls. Länder, die bis dahin unter Osmanischer Herrschaft standen, aber die Unabhängigkeit anstrebten – wie etwa Bulgarien – unterstützten den russischen Kampf. Viele Völker waren insgesamt beteiligt: Armenier, Georgier, Griechen, Mazedonier, Bulgaren, Rumänen, Serben, Türken und Russen.

Langzeitfolgen des Konfliktes

Die Friedensverträge, die 1878 in San Stefano (im Westen Istanbuls) unterschrieben und im selben Jahr beim Berliner Kongress nochmals modifiziert wurden, hatten für die Beteiligten unterschiedliche Folgen. Bulgarien wurde unabhängig, weshalb der Tag der Unterzeichnung bis heute Nationalfeiertag geblieben ist. Zudem konnten die Bulgaren makedonische Gebiete in ihr neues Land eingliedern – eine Tragik für Griechenland, das seinerseits makedonische Gebietsansprüche stellte.

Die Osmanen sahen in den Verträgen eine außenpolitische Zersetzung ihres Reiches. Die Georgier bekamen, freilich nur innerhalb des russischen Zarenreiches, südkaukasische Gebiete zugesprochen. Die Russen, vom Sieg beflügelt, sahen sich in der Schutzfunktion christlicher Völker Südost- und Osteuropas bestätigt.

Breite Friedensforschung

Die Erinnerungen an diesen Krieg sind folglich so grundverschieden wie die Auswirkungen auf die Völker. Das Ziel des Forschungsprojektes war es, das zu objektivieren: „Bislang kochten alle ihre eigenen nationalen Süppchen“, sagt Gutmeyr. Das EU-Projekt brachte Institute aus Graz, Blagoevgrad (Bulgarien), Skopje (Mazedonien), Istanbul (Türkei), Thessaloniki (Griechenland), Batumi (Georgien), Stavropol (Russland) und Erevan (Armenien) zusammen.

Bisher liegen vier Sammelbände und zahlreiche Monografien der beteiligten Forscher vor. Weitere sollen folgen. Das Großprojekt kann in der Forschungslandschaft durchaus als geisteswissenschaftliches Friedensprojekt bezeichnet werden: Immerhin schriebe es keine „genuin nationalen Narrative fort“, sagt Gutmeyr.

Lexikon

Der Russisch-Osmanische Krieg von 1877/78 brach unter anderem deshalb aus, weil sich das russische Imperium zunehmend als Schutzmacht der christlichen Völker des Balkans sah.

Als sich die Serben und die Bulgaren – beide Teil des Osmanischen Reiches – gegen die Herrschaft auflehnten, erklärte Russland den Osmanen den Krieg, freilich auch, um eigene Interessen, etwa im Kaukasus, durchzusetzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)

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