Britischer EU-Austritt? "Dann droht die Balkanisierung Europas"

(c) APA/AFP/JUSTIN TALLIS
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Der frühere britische Europa-Staatssekretär Denis MacShane schließt einen EU-Austritt seines Landes nicht aus. Ein knappes Ergebnis bei dem geplanten Referendum würde die Spaltung im Land noch vertiefen, warnt er.

Die Presse: David Cameron strebt eine EU-Reform an und macht davon seine Empfehlung für einen Verbleib Großbritanniens in der Union abhängig. Ist eine solche Vereinbarung für den kommenden EU-Gipfel im Februar realistisch?

Denis MacShane: Dass auf einmal eine grundlegend reformierte EU vereinbart werden kann, hält wohl niemand für möglich. Aber jetzt drückt man mächtig aufs Tempo, um das Thema vom Tisch zu haben. Nachdem Cameron 20 Jahre lang seiner Partei und uns allen erzählt hat, dass die EU eine Last und ein bürokratisches Monster ist, will er nun vom Saulus zum Paulus werden.

 

Und wie steht es um den Inhalt?

Dieser ist großteils symbolisch und kosmetisch. Natürlich ist in der Politik die Wahrnehmung oft so wichtig wie die Wirklichkeit. Aber es wird an Cameron liegen, die Briten davon zu überzeugen, dass er wirklich eine Veränderung im Verhältnis zwischen London und der EU herbeigeführt hat.

 

Wie soll ihm das gelingen?

Es wird sehr, sehr schwierig werden zu gewinnen, wenn man eine Kampagne auf Grundlage einer Unwahrheit beginnt.

 

Sie haben das Buch „Brexit. How Britain Will Leave Europe“ geschrieben. Umfragen sehen die EU-Gegner im Aufwind.

Natürlich bin ich besorgt. Die EU-Gegner sagen schon, dass Cameron nicht das bekommt, was er versprochen hat, oder dass er gar nichts erreicht. Sie sagen es täglich und sehr laut. Und sie haben die Unterstützung der meistgelesenen Zeitungen. 25 Jahre anti-europäische Propaganda lassen sich nicht plötzlich ungeschehen machen.

 

Was würde ein Brexit bedeuten?

Es wäre der größte Akt der selbst gewählten Isolation in den letzten 500 Jahren britischer Geschichte. Es würden fünf Jahre Chaos und Konfusion über uns hereinbrechen. Die Wirtschaft würde schweren Schaden erleiden. Es wäre das größte Geschenk aller Zeiten für den russischen Präsidenten, Wladimir Putin, und den Islamischen Staat, wenn sich das demokratische Zentrum des Westens aufzulösen beginnt. Statt der Europäisierung des Balkans würden wir eine Balkanisierung Europas bekommen.

 

Warum führt Cameron sein Land dennoch bis an den Rand des Abgrunds?

Aus rein parteipolitischen Gründen. Die Konservativen sind durch den Aufstieg der populistischen UKIP unter Druck. Zugleich sind die Tories in den vergangenen 20 Jahren so EU-skeptisch bis -feindlich geworden, dass Cameron glaubte, keine andere Wahl zu haben, als den Forderungen nach einer Volksabstimmung nachzugeben.

 

Vielleicht hat Cameron nicht unrecht, und es gibt gute Gründe für eine Reform der EU?

Natürlich. Europa braucht neue wirtschaftliche Dynamik. Und wir leiden unter einer schwachen politischen Führung ohne Mut und Vision. Die Wirtschaft wird in Vorschriften erstickt, die Sozialpartnerschaft funktioniert in vielen Fällen nicht mehr, es fehlen Infrastrukturausgaben und Zukunftsinvestitionen. Es fehlt der Mut, den Menschen zu sagen, dass sie hinter geschlossenen Grenzen nicht prosperieren können.

Muss Cameron nicht aufräumen, was Ihre Regierung hinterlassen hat? Sie haben bei der EU-Erweiterung die Grenzen geöffnet und den Zuzug von wenigen Zehntausenden prognostiziert. Allein im Vorjahr kamen 330.000 Menschen.

Zuwanderer hat es immer gegeben, und sie sind willkommen. Es wird immer Spannungen geben, aber der Prozess kann gelenkt werden. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass man heute für alles der EU die Schuld gegeben kann.

 

Wird das Referendum eine dauerhafte Entscheidung bringen?

Ein knappes Ergebnis wäre ein Albtraum. Es würde die Spaltung vertiefen, nicht überwinden. Schottland würde ein Nein nicht akzeptieren.

 

Was wird für das Referendum entscheidend sein?

Wenn die Wirtschaft sich sehr klar für den Verbleib ausspricht und das Ja-Lager eine inspirierende Persönlichkeit an der Spitze findet. Die Briten entscheiden normalerweise pragmatisch nach ihrem materiellen Vorteil.

ZUR PERSON



Denis MacShane, 67,
war von 2002–2005 in der Regierung von Tony Blair Europa-Staatssekretär. Der frühere Labour-Politiker ist besonders eng mit Frankreich und Deutschland verbunden und gehört heute zu den führenden außenpolitischen Beobachtern seines Landes. Er ist Autor des Buches „Brexit. How Britain Will Leave Europe“. [ AFP ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)


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