EU: Nationaler Grenzschutz wird Normalzustand

Am Rande des EU-Innenministertreffens protestierte Amnesty International für eine humane Flüchtlingspolitik – mit einem Boot voll Models in Schwimmwesten.
Am Rande des EU-Innenministertreffens protestierte Amnesty International für eine humane Flüchtlingspolitik – mit einem Boot voll Models in Schwimmwesten. imago/Paulo Amorim
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Bei einem informellen Treffen in Amsterdam debattierten die Innenminister über einen gemeinsamen EU-Außengrenzschutz, aber auch über die Verlängerung der nationalen Grenzkontrollen.

Wien/Amsterdam. Ein kleines Flüchtlingsboot näherte sich am frühen Montagvormittag dem Landesteg zum Schifffahrtsmuseum von Amsterdam. An Bord: Schaufensterpuppen in orangenfarbigen Rettungswesten, die den nach und nach eintreffenden EU-Innenministern die Dramatik der Flüchtlingskrise bildlich vor Augen führen sollten. Doch von einer Lösung sind die Ressortchefs, die gestern bei einem informellen Treffen auf Einladung der niederländischen Ratspräsidentschaft über den mangelhaften Schutz der EU-Außengrenze berieten, nach wie vor weit entfernt. Vor allem Griechenland steht im Zentrum der Kritik – lassen die dortigen Behörden doch aus der Türkei kommende Flüchtlinge ungehindert über die Balkanroute nach Norden weiterreisen (siehe auch Artikel unten).

Die Drohung von Österreichs Innenministerin, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), das Mittelmeerland aus dem Schengen-Raum auszuschließen, sollte sich die Situation nicht bessern, sorgte im Vorfeld des Treffens dennoch für Irritationen: Es gebe „natürlich keinen solchen Plan“, versicherte Innenkommissar Dimitris Avramopoulos im griechischen Fernsehen. Ein Rauswurf aus dem Schengen-Raum sei in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Stattdessen könnten nationale Grenzkontrollen, die ja mehrere Mitgliedstaaten wegen des andauernden Flüchtlingsstroms schon vor Monaten wieder eingeführt haben, verlängert werden. Dafür plädierten gestern neben Österreich unter anderem Deutschland, Schweden, Dänemark und Belgien.

Kontrollen auf unbestimmte Zeit?

So sieht Artikel 26 des Schengen-Vertrags die Möglichkeit vor, bei einer „ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit“ wieder Kontrollen für bis zu sechs Monate einzuführen. Dieser Zeitraum kann auf zwei Jahre ausgedehnt werden; dafür bedarf es jedoch einer gemeinsamen Empfehlung der Innenminister, die sich auf einen Vorschlag der Kommission stützt. Im äußersten Notfall können die Kontrollen gar auf unbestimmte Zeit verlängert werden. Fakt ist freilich, dass die nationale Grenzsicherung keine Dauerlösung ist, weil dann langfristig der Zerfall des Schengen-Raums droht. Die Kommission hat deshalb bereits im Dezember Pläne für einen gemeinsamen EU-Grenzschutz vorgelegt, über die die Mitgliedstaaten noch während der niederländischen Ratspräsidentschaft bis Ende Juni eine endgültige Entscheidung fällen wollen. Das Problem: Mehrere EU-Regierungen in Osteuropa sehen darin einen Eingriff in ihre nationale Souveränität, weil nach Vorstellung der Brüsseler Behörde bis zu 2500 EU-Grenzschützer – notfalls auch gegen den Willen des betreffenden Landes – zum Außengrenzschutz eingesetzt werden können. Die Innenminister debattierten gestern deshalb die Frage, ob eine derartige Maßnahme dauerhafte Grenzkontrollen nach Artikel 26 überhaupt noch verhindern könnte.

Zudem bleibt unklar, wer überhaupt für die Beurteilung bei Schwächen im europäischen Grenzmanagement zuständig sein soll – und ob Frontex schon bald dazu ermächtigt wird, eine eigenständige Bewertung abzugeben.

ZUKUNFTSSZENARIEN FÜR SCHENGEN

Die Flüchtlingskrise löst den Zerfall
des Schengen-Raums ausPessimistisches Szenario. Die aufkeimenden nationalistischen Strömungen setzen sich durch. Obwohl es teurer, aufwendiger und konfliktreicher ist, werden alle nationalen Grenzen wieder von jedem Mitgliedsland selbst kontrolliert. Es kann erwartet werden, dass diese Nachricht den Flüchtlingsstrom reduziert, allerdings würde eine größere Zahl an Kriegsvertriebenen weiterhin versuchen, nach Europa zu kommen. Im aktuellen Fall wären Italien und Griechenland hauptbetroffen. Sie würden kaum noch Unterstützung für ihren Grenzschutz erhalten, weil die Ressourcen in den Wiederaufbau nationaler Kontrollen fließen. Das Auseinanderbrechen des Schengen-Abkommens würde auch den Reiseverkehr und den EU-Binnenmarkt belasten, da es zu regelmäßigen Staus an den Grenzen käme. Für die EU könnte das Ende der offenen Grenzen eine Kehrtwende bringen – zurück zu mehr nationaler Souveränität in weiteren Bereichen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich einige politische Gruppen etwa mit ihrem Wunsch nach einer eigenen nationalen Währung oder eigenen Handelsschranken durchsetzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2016)

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