Wenn Kinder auf der Flucht verschwinden

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Hilfsorganisationen sind alarmiert, weil laut Europol 10.000 Flüchtlingskinder in Europa nicht mehr aufzufinden sind. Fälle in Österreich sind nicht bekannt. Das UN-Kinderhilfswerk fordert ein europäisches Schutzsystem.

Wien. Die Meldung der europäischen Polizeibehörde Europol, wonach in Europa 10.000 Flüchtlingskinder verschwunden sind, hat Hilfsorganisationen und staatliche Einrichtungen in Österreich überrascht. Beim UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) ist bisher nicht bekannt, dass sich derartige Vorfälle in Österreich ereignet hätten: „Wir wissen davon nichts.“ Trotzdem sei man alarmiert.

Ähnlich äußerten sich Organisationen, die Flüchtlinge in Österreich betreuen. „Wir haben diesbezüglich keine Wahrnehmung“, hieß es bei der Caritas. Dort wurde am Montag ein Rundruf bei befreundeten Organisationen gestartet, um zu erfahren, ob es derartige Vorfälle in Österreich gegeben habe. Europol befürchtet, dass viele der verschwundenen Kinder in die Hände von Kriminellen geraten sind und sogar zur Prostitution gezwungen werden.

Italien meldete allein 5000 vermisste Flüchtlingskinder, Schweden 1000. Die Statistiken in Österreich unterscheiden bei Vermisstenanzeigen nur zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern. Zahlen über abgängige Asylwerber gibt es laut Innenministerium nicht. Derzeit gelten insgesamt 1085 Menschen als vermisst. Bei den Nicht-EU-Bürgern sind es 299 Personen unter 18 und 175 unter 14 Jahren.

Andere Zielländer im Blick

Dass Asylwerber immer wieder verschwinden, erklärt das Innenministerium so: Rund 20 Prozent der Flüchtlinge, die in Österreich einen Asylantrag stellten, hätten den Ausgang ihres Antrags nicht abgewartet und seien oft schon bald nach der Antragstellung nicht mehr auffindbar gewesen. Darunter seien auch Minderjährige. Der Hauptgrund sei, dass sie von Anfang an andere Zielländer im Sinn gehabt hätten. Die Verfahren werden dann irgendwann eingestellt. Das dürfte auch der Grund bei jenen Minderjährigen sein, die im August in Traiskirchen nicht mehr auffindbar waren. Die Stadt Wien wollte sie abholen und woanders unterbringen. Hinweise auf Kriminalität in großem Stil oder Entführungen gibt es nicht.

Trotzdem hält etwa die Plattform für menschliche Asylpolitik die Warnungen von Europol nicht für übertrieben: „Diese Zahl klingt realistisch. Es sind immer wieder derartige Fälle bekannt geworden.“ Der Fonds Soziales Wien, der die Flüchtlingsunterkünfte in der Bundeshauptstadt organisiert, bezeichnete die Europol-Angaben als „sehr vage“. Auch hier wurde auf die Vorfälle in Traiskirchen im Herbst verwiesen. Nachdem die Stadt Wien in letzter Zeit keine Minderjährigen aus Traiskirchen abgeholt habe, könne man dazu aber nichts sagen. Ein ähnliches Bild zeichnet der Bundesgeschäftsführer der Kinderfreunde, Daniel Bohmann: „Wir haben keine Kinder in unserer Obhut, wir organisieren hauptsächlich Freizeit- und Bildungsangebote, die wöchentlich in Traiskirchen stattfinden.“ Man habe keine Beobachtungen gemacht, die die Europol-Warnung in Österreich bestätigen könnten: „Aber es ist naheliegend, dass es dazu kommt“, so Bohmann über den möglichen Missbrauch von Flüchtlingskindern.

Das UN-Kinderhilfswerk Unicef sieht angesichts der Europol-Schätzungen dringenden europaweiten Handlungsbedarf. „Die Staaten müssen ihre Schutzsysteme für Kinder stärken“, sagte Unicef-Sprecherin Sarah Crowe. Bessere Kooperation unter den Staaten sei erforderlich. Und: Je strikter die Grenzpolitik werde, desto mehr nutzten Schlepper und Menschenhändler die Verwundbarkeit von Minderjährigen aus. (stu, kb, raa)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2016)

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