Ungarn hätte wie Österreich sein können . . .

Frühere linke Regierungen haben das Geld der Steuerzahler mit der Schubkarre weggeschafft. Orbán kommt mit dem Bagger.

Während ich über die Entwicklung der nahe Budapest gelegenen ungarischen Kleinstadt Budaörs staune, fällt mir ein: Unser Land hätte wie Österreich sein können . . .

Seit mehr als 25 Jahren beobachte ich, wie ein Bürgermeister, der keine langen Finger macht und andere auch keine machen lässt, etwas aus dem verstaubten, chaotischen Budaörs gemacht hat. Wegen der neu gestalteten, mit Blumen geschmückten Straßen empfanden die Menschen, dass die gepflegte Umgebung sie ebenfalls verpflichtet – und sie fingen an, ihre Häuser und Geschäfte herauszuputzen.

Spaziert man die Hauptstraße entlang, fragt man sich: Ja, bin ich etwa schon in Österreich gelandet? Dieser Eindruck entsteht sowohl auf der Hauptstraße wie auch in den kleinsten Gassen des Städtchens. Die medizinische Versorgung funktioniert, es gibt eine Tagesklinik, ein modernes Schwimmbad, einen großen, gepflegten Spielplatz für Fußball und Basketball, Tische für Picknicks und eine öffentliche Toilette, in der Klopapier – wer hätte das gedacht? – immer vorhanden ist.

So könnte das ganze Land sein

Wenn etwas in Budaörs nicht erhältlich ist, lohnt es sich gleich gar nicht, anderswo in Ungarn weiter danach zu suchen. Für finanzielle Angelegenheiten stehen zehn verschiedene Banken zur Auswahl. Die Arbeitslosigkeit liegt bei einem Drittel des ungarischen Durchschnitts, und das in Ungarn bereits kaum mehr vorhandene soziale Netz ist in Budaörs intakt.

So könnte das ganze Land sein, wenn der überwiegende Teil der ungarischen politischen Elite ihr eigenes Land nicht bestehlen und dies auch den anderen nicht erlauben würde. Beim Einheimsen hat der Mafiastaat des Viktor Orbán den Turbo eingeschaltet. Während die frühere sozialistische Regierung das Geld der Steuerzahler mit einer Schubkarre beiseitegeschafft hat, tut das die Orbán-Regierung seit 2010 mit dem Bagger der Gesetzgebung.

Denn Geld gab es in Ungarn genug. Und zwar weit mehr als zur Zeit des Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg, der Österreich bekanntlich wieder auf die Beine geholfen hatte. Die Alpenrepublik hatte damals – umgerechnet auf heutigen Wert – 7,2 Milliarden Euro aus den USA erhalten. Ungarn hat seit dem Eintritt des Landes in die Europäische Union 2004 bis zum Jahr 2015 insgesamt 37 Milliarden Euro erhalten.

Trotz dieses Heidengeldes hat es Viktor Orbán in nur fünf Jahren fertiggebracht, aus Ungarn ein rasch verarmendes, lebensfremdes Land zu machen, aus dem doppelt so viele junge Menschen in den Westen fliehen wie noch beim Volksaufstand 1956.

Wäre vom Orbán-Regime und dessen Oligarchen nicht so viel gestohlen worden, hätte man doppelt so viele Autobahnen bauen können, womit man es sich hätte ersparen können, für die Hälfte der nicht reparierten Straßen nunmehr die neue Bezeichnung „Schnellstraße“ zu erfinden, um doch an EU-Gelder heranzukommen. Dann hätten Orbán und seine Freunde keine Dividenden in Höhe von mehreren Hundert Millionen Euro einstreichen können.

Wäre die Hälfte der Gelder aus Brüssel nicht in private Taschen geflossen, hätte man das heruntergekommene ungarische Gesundheitswesen einigermaßen verbessern und das marode Schulsystem wieder auf Vordermann bringen können.

Dann besäße Orbáns Außenminister keine Datscha an der Donau im Wert von 670.000 Euro. Und Orbán hätte für seine Tochter Rahel keine sündhaft teure Ausbildung in der Schweiz bezahlen können. Auch die Firma seines Schwiegersohns hätte den Zuschlag für das Ausstatten öffentlicher Plätze mit Leuchtkörpern in Budapest nicht bekommen, zumal Mitbewerber Teile des Auftrags für 300.000 Euro weniger ausgeführt hätten.

Altersversorgung verjubelt

Es wurden ja nicht nur die Gelder der EU beiseitegeschafft, sondern alles, was dem Mafiastaat in die Quere kam. Mit einem einzigen Gesetz hat die Orbán-Regierung im Jahr 2010 die privaten Ersparnisse der Ungarn für Altersversorgung im Wert von zehn Milliarden Euro an sich gerissen. Dieses Geld wurde inzwischen vollständig verjubelt.

Mit einem im Eilverfahren durch das Parlament gepeitschten Gesetz wurden auch die 40.000 Besitzer kleiner Tabakläden enteignet, um dann die Konzessionen für „nationale Tabakläden“ 5000 Fidesz-Freunden zuzuschanzen. Hätte die von Fidesz geführte kommunale Verwaltung Immobilien in der Budapester Innenstadt (fünfter Bezirk) nicht zu Schleuderpreisen an ihre politischen Freunde verhökert, wäre jetzt für Schulen und kommunale Arztpraxen in der Innenstadt mehr Geld übrig. Dann besäße der damalige Bezirksbürgermeister Antal Rogán (heute Minister im Orbán-Kabinett) keine luxuriöse Wohnung in einer vornehmen Siedlung und könnte für die Lebenskosten seiner Familie nicht mehr ausgeben, als er verdient.

Jahrhundertealter Rückstand

Hätte man die Millionen abwerfende Konzession für den Betrieb staatlicher Glücksspiele nicht einem Busenfreund von Orbán zugespielt, wären die Grundstücke im staatlichen Besitz nicht für einen Pappenstiel an Parteifreunde verhökert worden; dann hätten nicht Offshore-Firmen 200 Millionen Euro Gewinn aus dem Verkauf von Schuldscheinen für die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen; dann würde nicht eine Orbán nahestehende Privatfirma am billig erworbenen, an den ungarischen Staat jedoch teuer verkauften Gas jedes Jahr Millionen Euro verdienen; dann bekäme Orbáns Zahnarzt keine staatliche Unterstützung in Millionenhöhe, dann . . .

Ja, dann wäre das ungarische Staatssäckel um mehrere Milliarden Euro reicher. Und dieses Geld könnte man zum Wohl aller Bürger einsetzen. Das nennt man Allgemeinwohl – ein Begriff, der der Orbán-Regierung unbekannt zu sein scheint. Kleine Oasen wie das Städtchen Budaörs bilden die Ausnahme.

Es ist mir bewusst, dass die Behauptung im Titel dieses Gastkommentars eine rhetorische Übertreibung ist. „[. . .] wie Österreich sein können“ ist nicht so einfach, das geht auch nicht in wenigen Jahren. Unser Rückstand ist mehrere hundert Jahre alt.

Unterwegs zum Feudalismus

Hätte der sonst doch so energisch wirkende Viktor Orbán – statt sich und seine Freunde zu bereichern und somit sein Land auf den Weg zum Feudalismus zu befördern – sich im Interesse des Allgemeinwohls für die Demokratie eingesetzt, hätte Ungarn nicht erneut wenigstens ein halbes Jahrhundert vergeudet.

Ein solches Verbrechen am ungarischen Volk wurde nicht einmal von den dunkelsten Gestalten seiner Geschichte verübt. Denn dieses Mal gab es keine Einmischung ausländischer Mächte – und somit ist die Chance, Gutes zu tun, noch nie so groß gewesen.

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DER AUTOR



Prof. Mihály Andor
(*1944) ist promovierter Soziologe im Ruhestand. Bis zur Pensionierung war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Soziologie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche seiner Publikationen sind in Ungarn, Deutschland und Österreich erschienen. Er lebt in der Nähe von Budapest. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2016)

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