Weil sie eine Petition für Frieden im Südosten des Landes unterzeichnet haben, stellt die Regierung die Wissenschaftler an den Pranger. Von „Pseudo-Intellektuellen“ ist die Rede. Gespräch mit einer Betroffenen.
Wien/Ankara. Sie sind eine vergleichsweise kleine, aber einflussreiche Gruppe, und die türkischen Medien beschäftigen sich seit Wochen mit ihr. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP-Regierung verheimlichen ihren Grant über sie erst gar nicht, und Nationalisten wie der verurteilte, umtriebige Kriminelle Sedat Peker ließen die Medien wissen, dass man im Blut dieser Gruppe baden werde. Die Gruppe, das sind etwa 1100 türkische Wissenschaftler und Akademiker, die im Jänner eine Petition für Frieden und gegen den Bürgerkrieg im Südosten der Türkei unterschrieben haben: „Wir fordern den Staat auf, diese Vernichtungs- und Vertreibungspolitik gegenüber der gesamten Bevölkerung der Region und insbesondere der kurdischen Bevölkerung sofort einzustellen.“
„Seitdem“, sagt eine Wissenschaftlerin, die die Petition „Akademiker für Frieden“ ebenfalls unterzeichnet hat, „werden wir an den Pranger gestellt, marginalisiert und als Pseudo-Intellektuelle bezeichnet.“ Die Namen der Unterzeichner wurden in regierungsnahen Medien samt Fotos veröffentlicht und als Unterstützer von Terroristen betitelt. Die Diktion werde von vielen Studenten und der Öffentlichkeit übernommen, so die Akademikerin, die anonym bleiben möchte. In mehreren Städten kam es zu Hausdurchsuchungen. An etlichen Privat- und staatlichen Universitäten wurden Professoren entlassen, einige weitere müssen mit Anklagen nach dem Terrorparagrafen rechnen. Dutzende Unterzeichner wurden bereits verhört und dabei auch gefragt, ob sie von der verbotenen kurdischen PKK zu ihrer Unterschrift aufgefordert wurden, erzählt die Betroffene.
„Es ist nicht unser Anliegen, die PKK oder Terroristen zu unterstützen“, sagt sie. Die Kritik, dass die Unterzeichner zwar den Staat angreifen, aber nicht die Terrorakte der PKK, weist sie zurück. „Wir sind Bürger des Staates und haben deshalb den Staat aufgefordert, für Frieden zu sorgen.“ Erdoğan selbst nannte die Akademiker „dunkle Gestalten“. Die linksliberale Zeitung „Cumhuriyet“ konnte ihre Verwunderung nicht verbergen, als der Präsident bei der Trauerfeier für die Istanbuler Terroropfer kurz über den Anschlag sprach und sich anschließend lang über die Petition ereiferte: „IS lässt eine Bombe hochgehen, aber Erdoğans Sorgen sind Akademiker“, titelte die Zeitung. Anfang Jänner sprengte in Istanbul ein vermutlich islamistischer Attentäter sich und zehn deutsche Touristen in die Luft.
„Erdoğan will die kritische Masse von den Unis wegschaffen“, sagt die Akademikerin, die von der grünen Wissenschaftssprecherin Sigrid Maurer eingeladen wurde. Jüngst deutete Premier Ahmet Davutoğlu an, dass an den türkischen Unis bald 1000 Stellen frei würden. Ob nun ernst gemeint, oder nicht: Es erinnert an den Feldzug der AKP gegen die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen: Sie waren vor allem in Justiz und Polizei vertreten und wurden großflächig ausgetauscht.
Davutoğlu, selbst Wissenschaftler, legte den Unterzeichnern die Rücknahme ihrer Stimme nahe. Bisher kamen dem nur vier nach. Stattdessen hat die Petition mehr Unterstützung bekommen. Aktuell sind es etwa 2200 Namen, darunter auch ausländische Intellektuelle wie Noam Chomsky, Judith Butler und Immanuel Wallerstein.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2016)