Neoliberales Christentum und seine Propheten

Seit 25 Jahren wird Europa nach marktreligiösen Leitlinien umgestaltet, doch der Erfolg mag sich nicht einstellen.

Reinhold Lopatka fordert namens der ÖVP: Die Mindestsicherung muss mit 1500 Euro gedeckelt werden. Die familienkundigen ÖVP-Politiker werden zeigen, wie ein Ehepaar mit drei oder vier Kindern auch mit weniger auskommen kann.

Noch mehr an den Armen sparen wollen ÖVP und FPÖ in Oberösterreich: Flüchtlinge mit befristetem Asyl sollen nur mehr 320 Euro (statt 914) bekommen. Generell soll die Mindestsicherung reformiert werden. Dann werden sich die 260.000 Ärmsten mehr anstrengen, Jobs zu finden. (Gibt's die?)

Und alle christlichen Parteien Europas sind sich einig: Höhere Vermögensteuern kommen nicht infrage! Auch wenn die Armut immer mehr zunimmt. Wer das für unchristlich hält, hat die Modernisierung des Christentums verschlafen. Politisch verhalfen Margret Thatcher und Ronald Reagan der marktkonformen Version zum Durchbruch (beide waren gläubige Christen): Wenn jeder nur seinem Eigennutz folgt, verwandelt die „unsichtbare Hand“ des Markts die individuellen Egoismen ins allgemeine Beste.

Nächstenliebe hat Vorrang

Diese Version hat auch die Wissenschaft auf ihrer Seite. Nobelpreisträger wie Friedman und Hayek zeigten: Umverteilung von Reich zu Arm verkennt den dynamischen Charakter des Wirtschaftens. Werden den Armen Sozialleistungen gekürzt, so müssen sie sich mehr anstrengen, ihre Eigeninitiative wird gestärkt.

Nobelpreisträger James Buchanan, hat dafür das „Samariter-Paradox“ erfunden: Wer dem Schwachen hilft, lässt ihn nur allzu leicht in einer „sozialen Hängematte“ verkommen. Der moderne Samariter gibt dem Bedürftigen einen Tritt als Hilfe zur Selbsthilfe.

Die Nächstenliebe kommt nicht zu kurz. Doch wird sie im modernen Christentum wörtlich genommen und hat daher Vorrang vor der „Fernstenliebe“: Wenn wir die Grenzen dichtmachen, werden die Flüchtlinge nur für die Griechen zu Nächsten. Die müssen sich sowieso mehr zusammenreißen. Gleichzeitig wird ein uraltes Problem der Philosophie aufgelöst, der Widerspruch zwischen Egoismus und Moral: Handle eigennützig, dann handelst du auch gut! Diese Botschaft hat den Oberen gutgetan.

Doch Zweifel regt sich: Seit 25 Jahren wird Europa nach marktreligiösen Leitlinien umgestaltet, Sozialleistungen, Reallöhne, Spitzensteuersätze und Vermögensteuern werden gekürzt, doch der Erfolg mag sich nicht einstellen. Im Gegenteil: Es geht immer mehr bergab, die Ungleichheit wird größer und größer. Auf vier Fronten wird dieser Zweifel bekämpft.
Erstens: Die Wissenschaft leitet aus der „Unsichtbare-Hand-Theorie“ strikte Regeln für die Politik ab (Sparpolitik, Marktliberalisierung, etc.).
Zweitens: Letztere bindet sich den Regeln entsprechend selbst, teilweise für ewig (aus dem Fiskalpakt kommt man nicht mehr raus, aus TTIP wohl auch nicht).
Drittens: Die Oberen finanzieren immer mehr Thinktanks, in denen (junge) Ökonomen die wahre Theorie popularisieren. Angesichts der prekären Jobsituation sind sie zu erstaunlichen Anpassungsleistungen fähig.
Viertens: Die Journalisten verbreiten eine marktkonforme Sprache: Wer sich an „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ hält, ist ein Gutmensch, die schlauen Egoisten sind die wahren Guten. Wer viel verdient, ist Leistungsträger etc.

Freilich: Bekommt eine 24-Stunden-Pflegerin 1000 Euro und ein Trader 100.000 Euro, könnten einem Zweifel kommen. Hier hilft die herrschende Verteilungstheorie: Jeder verdient, was er verdient, daher Leistungsträger.

„Die unsichtbare Hand“

Fundiert wird das Weltbild durch Berufung auf den großen Adam Smith. Dieser hätte gezeigt: Die „unsichtbare Hand“ des Markts lenkt die Egoismen der Einzelnen zum besten Ganzen. Gott sei Dank ist weitgehend unbekannt, dass Smith das nie gesagt hat.

An einer einzigen Stelle seines ökonomischen Hauptwerks hat er den Begriff „invisible hand“ verwendet: Englische Kaufleute würden aus Eigennutz (Risikovermeidung) dem Binnenhandel den Vorzug vor dem Handel mit den Kolonien geben und so die englische Wirtschaft fördern, ohne dass dies ihre Absicht gewesen sei – wie „von einer unsichtbarer Hand geleitet“.

Zum „höheren Wesen“ wurde die „unsichtbare Hand“ erst durch Nobelpreisträger Samuelson. In seinem Lehrbuch „Economics“, dem erfolgreichsten aller Zeiten (Gesamtauflage seit 1948 ca. fünf Millionen), unterstellt er Smith ein solch „magisches Prinzip“.

Die Theorie von Smith über Individuum und Gesellschaft ist anders und genial einfach: Der Mensch ist sowohl ein Einzelner als auch ein soziales Wesen. Er nimmt daher am Schicksal anderer Anteil und erhofft sich dies umgekehrt auch von den Mitmenschen.

Gegen die Thesen des Papstes

Sympathie ist das wichtigste Bindeglied. Jeder prüft sein Verhalten danach, wie es der innere „unparteiische Beobachter“ bewerten würde – dieser repräsentiert die ethischen Normen. Folgen die Einzelnen ihrem „inneren Menschen“, so stärkt dies sowohl die individuelle Identität als auch die gesellschaftliche Kohärenz: Selbstliebe und Nächstenliebe bedingen einander, Solidarität ist ein Eigennutz sozialer Ordnung. Dies konnte man an den Gesichtern derer sehen, die den Flüchtlingen halfen. Nicht moralinsaures Gutsein strahlten sie aus, sondern Freude und Spaß und so viel Lebensenergie. Liebe Bösmenschen, am Ende entgeht euch noch was. . .

Noch aber gilt es, die Stellung zu halten – eine Weltanschauung, an deren Restaurierung so viele Geistesgrößen Jahrzehnte gearbeitet haben, kann doch nicht falsch sein! Auch die zum zeitgemäßen Christentum Konvertierten halten daran fest, selbst gegen die Thesen von Papst Franziskus („Evangelii Gaudium“): „...der größte Teil der Männer und Frauen unserer Zeit lebt in täglicher Unsicherheit, [...] Angst und Verzweiflung ergreifen das Herz vieler Menschen, [...] die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage [...] Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht [...] Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichtemacht.“

Globalisierte Gleichgültigkeit

Und Papst Franziskus weiter: „Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt [...] Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen.“

Mehr Gutmensch geht kaum. Wenn er und Adam Smith am Ende auch noch recht behielten – nicht auszudenken!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Stephan Schulmeister
(* 1947) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien. Er war von 1972 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Forschungsaufenthalte am Bologna Center der John Hopkins University, an der New York University sowie am Wissenschaftszentrum
Berlin. [ Clemens Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2016)

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