Der vergessene Krieg in der Ostukraine

Member of self-proclaimed Donetsk People´s Republic forces sits inside building destroyed during battles with Ukrainian armed forces at Donetsk airport
Member of self-proclaimed Donetsk People´s Republic forces sits inside building destroyed during battles with Ukrainian armed forces at Donetsk airport(c) REUTERS (ALEXANDER ERMOCHENKO)
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Das vor einem Jahr verhandelte Maßnahmenpaket hat dazu beigetragen, den Konflikt im Donbass zu beruhigen. Eine politische Lösung ist in weiter Ferne. Die erforderlichen Schritte dazu sind bei allen Beteiligten unpopulär.

Tag für Tag schicken die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ihre Berichte aus dem Kriegsgebiet. Es sind faktisch-lapidare Notizen der Special Monitoring Mission (SMM) über die Vorkommnisse im ostukrainischen Kriegsgebiet. 7. Februar, Bezirk Petrowskij, Donezk, ein Mann wurde tags zuvor auf der Straße von Granatsplittern tödlich getroffen: „Am südlichen Ende des Kraters sah die SMM Blutflecken. Die SMM konnte die Richtung, aus der das Feuer gekommen ist, nicht feststellen, da nach dem Vorfall Autos über den Krater gefahren sind.“

Seit mehreren Tagen notieren die OSZE-Beobachter wieder vermehrt Verstöße gegen die seit September 2015 größtenteils wirksame Waffenruhe. Eskalationen im Feld finden häufig vor internationalen Gesprächsrunden statt: Heischen um die Mangelware Aufmerksamkeit in diesem Krieg mit mehr als 9000 Toten, der eineinhalb Jahre nach seinem Ausbruch in der internationalen Öffentlichkeit bereits als „vergessener Konflikt“ gilt.

Diese Woche sollten eigentlich die Außenminister der Normandie-Runde (Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine) zusammenkommen, um dem Friedensprozess von Minsk neuen Schwung zu verleihen. Doch vermutlich wird das Treffen – geplant ursprünglich zu Wochenbeginn, dann verschoben auf die Münchner Sicherheitskonferenz – gar nicht erst stattfinden. Auch, weil nicht klar ist, was auf einem Summit eigentlich verkündet werden soll: Kompromisse zwischen den Konfliktparteien oder gar Verhandlungserfolge gibt es keine zu präsentieren.

Der Hoffnungsschimmer von Minsk

Vor einem Jahr wurde in der weißrussischen Hauptstadt das Abkommen Minsk II geschlossen. Am 11. Februar verhandelten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande, Russlands Staatschef Wladimir Putin und sein ukrainischer Kollege, Petro Poroschenko, einen Friedensplan. Das Abkommen selbst besteht aus 13 Maßnahmen und wurde tags darauf von der damaligen OSZE-Botschafterin Heidi Tagliavini, dem ukrainischen Vermittler Leonid Kutschma, dem russischen Botschafter Michail Surabow sowie zwei Vertretern der Separatisten unterzeichnet. Minsk sollte bis Jahresende 2015 den Weg zu Deeskalation und einer echten politischen Lösung ebnen. Doch ein Jahr nach seiner Unterzeichnung sind einige Punkte des Abkommens nur in Teilen umgesetzt, mehrere gar nicht.

Ebenso wie die mehrere Hundert Kilometer lange Frontlinie haben sich die Positionen der Konfliktparteien verfestigt. Ein Knackpunkt bei den Gesprächsrunden der Kontaktgruppe, die wöchentlich stattfinden, ist eine Verfassungsreform, die den von Regierungskräften nicht kontrollierten Gebieten mehr Befugnisse geben soll.

Während Kiew lediglich eine Dezentralisierung vorschwebt, möchten die prorussischen Gebietsherren und ihre russischen Unterstützer möglichst weitreichende Eigenständigkeit. Für Präsident Poroschenko, der dem eigensinnigen Parlament die Entscheidung überlassen muss, wird es immer schwieriger, die Reform durchzubringen. Erstens wegen der akuten innenpolitischen Krise, die im schlimmsten Fall den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen bringt. Zweitens wegen fehlender Konzessionen der (pro-)russischen Seite in anderen Punkten – etwa bei der geplanten Lokalwahl im Donbass.

Diese Gemeinderatswahl soll nach ukrainischer Rechtsordnung ablaufen und einen demokratischen Prozess der Reintegration in Gang setzen. Dabei sollen ukrainische Parteien zugelassen und der Wahlgang von internationalen Beobachtern kontrolliert werden – wobei die für Kiew wichtige Frage noch offen ist, wie für deren Sicherheit gesorgt sein soll. Ebenso ist Gegenstand von Verhandlungen, ob und wo die 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge dort abstimmen dürfen. Dem Vernehmen nach wird in Minsk über die Entsendung internationaler Polizeikräfte (im Rahmen von OSZE oder der UNO) zur Sicherung der Wahlen diskutiert.

Ein „sonderbarer Krieg“

Die zähe Lösungssuche hat den Kiewer Publizisten Mykola Rjabtschuk dazu veranlasst, von einem „sonderbaren Krieg“ zu sprechen: „Es geht nicht darum, ein Gebiet zu erobern, sondern die andere Seite dazu zu zwingen, es zu nehmen.“ Eine zugespitzte, aber ziemlich treffende Formulierung: Der Kreml ist nach der Entsorgung seiner Neurussland-Pläne (der Schaffung eines großen Einflussgebiets im ukrainischen Südosten) mit einem Donbass konfrontiert, der hohe Finanzhilfen benötigt: Allein die Pensionen in der „Donezker Volksrepublik“ dürften Moskau im Jahr 450 Millionen Euro kosten. Von Aufbauhilfen ist erst gar keine Rede.

Gleichzeitig möchte der Kreml offenbar über den Donbass als Instrument zur Destabilisierung einer demokratischen Ukraine verfügen – und wenn nötig, kann der Konflikt angeheizt werden. „Moskau scheint mit mehreren Optionen zu spielen“, konstatiert ein aktueller Bericht der International Crisis Group. „Diese taktische Fluidität ist riskant.“ Wenig Interesse an einer Konfliktlösung haben indes die Donezker und Luhansker Lokalherrscher: Sie müssen fürchten, von Russland fallen gelassen zu werden. Aus Angst vor Machtverlust haben sich mehrere Feldkommandanten stets offen gegen den Minsk-Prozess ausgesprochen.

Und Kiew? Anders als die offizielle Diktion suggeriert, will man den Donbass nicht um jeden Preis zurückhaben. Das für Kiew ungünstigste Szenario wäre eine Übernahme der Kosten mit geringem politischen Einfluss. Mangels Angeboten von der Gegenseite zieht man die Sache derzeit lieber in die Länge. Auch innenpolitisch ist Kompromissbereitschaft zunehmend riskant. Die neue Deadline des Minsk-Prozesses – Ende 2016 – könnte sich erneut als variabel erweisen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2016)

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