Margarethe Ottillinger: Der Menschenraub auf der Ennsbrücke

Ursula Strauss als Margarethe Ottillinger beim ersten scharfen Verhör durch die Sowjets in Baden.
Ursula Strauss als Margarethe Ottillinger beim ersten scharfen Verhör durch die Sowjets in Baden.(c) ORF (Hubert Mican)
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Eine junge österreichische Ministerialbeamtin wird 1948 aus dem Auto heraus gekidnappt. Die sowjetische Besatzungsmacht schickt sie ins Straflager. – Ihre einzigartige Lebensgeschichte jetzt als Spielfilm im ORF.

Freitag, 5. November 1948. Es ist trüb. Von Linz kommend, nähert sich ein dunkles Auto langsam der Ennsbrücke. In der Mitte der Brücke verläuft die gefürchtete Zonengrenze: Man begibt sich – nach doppelter Passkontrolle – aus der US-Besatzungszone in den russischen Bereich.

Um 15.30 Uhr hat der Wagen den US-Posten passiert. Es ist das Dienstauto der Sektionsleiterin im Wiener Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Margarethe Ottillinger (28). Neben ihr, im Fond des Wagens, ihr Chef, der Bundesminister Peter Krauland (45). Sein Auto ist gerade in der Werkstatt.

Für ihr Alter hat es die Diplomkauffrau schon weit gebracht. Im Ministerium führt sie eine wichtige Sektion. Man kommt aus Linz, wo eine Geheimsitzung stattgefunden hat. Die Unterlagen sind in der Aktentasche, die die Sektionsleiterin achtsam an sich presst. Die Sowjets wissen von der Besprechung zwischen Ottillinger, Krauland, Hans Malzacher von der Voest, Hans Igler vom Marshallplan. Und zwei russische Grenzer warten nun auf ihr Opfer.

„In Wahrheit ging es um die wirtschaftliche Einheit Österreichs“, sagt Historiker Stefan Karner, der die ORF-Dokumentation „Spiel mit dem Feuer“ (4. März, ORF 2) fachlich mitgestaltet hat. Ottillinger hatte einen Stahlplan ausgearbeitet, der die russischen Betriebe in Ostösterreich nicht mehr bevorzugen sollte. Für die Sowjets war klar, dass durch diesen Schlag ihre schlecht geführten Betriebe nicht überleben würden. Moskaus Einfluss würde schwinden, eine Zweiteilung Österreichs in weite Ferne rücken. Also sollte dem „Ami-Freund“ Krauland ein Warnschuss verpasst werden.

Die junge Karrierebeamtin, zuständig für den Stahlplan der Regierung und involviert in die Planungen für den Marshallplan, gilt dem sowjetischen Geheimdienst schon längere Zeit als „Spionin“ im Solde der Amerikaner. Beschattung, Observation, verklausulierte Drohungen, vermeintliche „Ratschläge“ registriert sie. Aber die Russen haben keine Beweise. Just ein Wiener Kripobeamter liefert sie ihnen im August 1948 nach schwerer Folter.

Um sich vor sowjetischem Zugriff zu schützen, wohnt sie einige Wochen im Haus des Ministers in der US-Zone Wiens – nicht zur Freude der Hausfrau. Die oft vermutete Liaison Ottillingers mit dem Chef hat Stefan Karner als Spekulation enttarnt. Die junge Dame ist ganz anderweitig verliebt. Das sollte ihr Untergang sein.

Die Grenzsoldaten Staršina Petriga und Untersergeant Egorov sind vorbereitet. Petriga kontrolliert die Ausweise noch vor dem Schranken – jene Ottillingers besonders lange. Er gibt die Papiere zurück und das Zeichen zur Weiterfahrt. Dennoch geht der sowjetische Schlagbaum nicht hoch. Da reißt Petriga die Beifahrertür auf, setzt sich auf den Beifahrersitz und befiehlt dem Chauffeur, nach vorn zu fahren. Jetzt geht der Schlagbaum hoch. Der Wagen fährt ein paar Meter zur Brückenkommandantur. Dort steht Egorov mit einer MP und lässt den Chauffeur aussteigen. Ab jetzt geht alles blitzschnell.

Ottillinger erfasst die Situation, schiebt Krauland die Aktentasche mit dem Geheimplan zu, ihr Notizbuch mit Telefonnummern von Kontaktpersonen, und hält den Grenzer an den Schultern fest. Sie ruft ihrem Chauffeur zu: „Rückwärts, schnell, schnell!“ Dieser springt in den Wagen, versucht den Rückwärtsgang einzulegen. Die Grenzposten auf der US-Seite der Brücke sehen das Drama. Sie sind neu. Um zu helfen, öffnen sie ihren Schlagbaum. Zu spät. Der Wagen rollt nur wenige Meter rückwärts. Blitzartig hat sich der Grenzsoldat losgerissen und den Gang herausgenommen: „Stoj! Stoj!“ Krauland und Ottilinger müssen aussteigen, sie leisten keinen Widerstand.

Krauland betont sofort seine Immunität, bei seiner Begleitung könne es sich nur um eine Verwechslung handeln. „Dies muss noch geklärt werden“, entgegnet der sowjetische Kommandant. Ottillinger müsse hier bleiben, der Minister könne weiterfahren, „weil es keinen Zweck hat zu warten“. Er tut es und lässt die junge Frau gegen 18 Uhr allein zurück. Später hat er ausgesagt, dass er hoffte, im Gespräch mit dem sowjetischen Hochkommissar mehr für die Festgenommene erreichen zu können.

Als der Chauffeur mit dem Minister gerade losfahren will, bittet Ottillinger die Grenzorgane, noch Unterlagen aus dem Wagen holen zu dürfen, läuft in den Hof der Kommandantur, klopft an das Fenster des Autos. Sofort ist sie von Soldaten umringt. An Flucht ist nicht zu denken. Sie öffnet die Wagentür, da liegt ihre Aktentasche. Schnell nimmt sie Ausweise und ihr Geldbörsel heraus.

Und nun beginnt für seine Mitarbeiterin ein jahrelanger Leidensweg. Erst nach Wochen scharfer Verhöre gesteht sie, dass sie dem russischen Stahlfachmann Andrej I. Didenko 1946 zur Flucht in den Westen verholfen hat. Aus sowjetischer Sicht ein Kapitalverbrechen, nicht nur für Didenko, sondern auch für die hohe österreichische Regierungsbeamtin. Stefan Karner hat nun anhand der Verhörprotokolle das Rätsel um Ottillingers Verhaftung gelüftet. Ihr Grund für die Fluchthilfe liest sich in den sowjetischen Papieren heute noch zu Herzen gehend: „Ich habe ihn geliebt.“

Das sollte sie bitter büßen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

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