Griechenland soll aus dem Schengen-Abkommen gedrängt werden. Kein schöner Vorgang und das Ende europäischer Lösungen in der Flüchtlingskrise.
Eine Gemeinschaft ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Das war so in der Eurokrise, und das ist nun für viele in der Flüchtlingskrise so. Die Visegrád-Länder definieren erneut Griechenland als dieses schwächste Glied, und sie lassen keinen Zweifel, dass sie es abtrennen möchten. Auch in den restlichen EU-Hauptstädten – darunter in Wien – wächst der Wunsch, die Grenze zwischen Griechenland und seinen nördlichen Nachbarn dichtzumachen. Es soll kein Flüchtling mehr weiterreisen dürfen und Athen mit dem Problem alleingelassen werden. Das Land würde de facto aus dem Schengen-Abkommen gedrängt.
Tatsache ist, dass Griechenland mit rund 2000 täglich aus der Türkei ankommenden Flüchtlingen völlig überfordert ist. Tatsache ist auch, dass die Trennung zwischen schutzbedürftigen Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen derzeit nicht in Griechenland erfolgt, sondern erst bei den Asylverfahren in Österreich, Deutschland oder Schweden. Natürlich ist es da einfach, die Schuld allein jenem Land zuzuschieben, das schon in der Finanz- und Schuldenkrise ein Problemfall war.
Von „Notbremse“ ist die Rede, von einer Maßnahme, um den Flüchtlingen zu signalisieren, dass sich eine Einwanderung in die EU nicht mehr lohnt. Freilich, die Kriegsvertriebenen aus Syrien und jene Masse an Menschen aus anderen Gebieten Nordafrikas und dem Nahen Osten haben schon so viele Signale erhalten. Ob Grenzzäune, gekürzte finanzielle Hilfe, ob erschwerter Familiennachzug oder gar die Enteignung ihrer mitgebrachten Geld- und Wertbestände, sie sind trotzdem gekommen. Die europäischen Staaten haben sich schon ziemlich hässlich gemacht, mit einem raschen Versiegen dieser Welle kann dennoch nicht gerechnet werden.
Allerdings hat dieses neue Signal weitreichende Folgen: Griechenland könnte nun alle Migranten zurückerhalten, die an der Grenze Richtung Norden abgewiesen werden. Die Folgen wären chaotische Zustände auf den Inseln und auf dem Festland. Das Land ist bereits jetzt Warteraum einer Massenwanderung. Nun dürfte es in diesem Warteraum richtig eng werden. Obwohl Athen längst um Hilfe bei den EU-Partnern für den Grenzschutz, für die Registrierung und Betreuung der Zuwanderer gebeten hat, ist monatelang nichts geschehen. Die Verantwortlichen in Brüssel und die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, haben stattdessen ihre ganze Energie aufgewendet, um mit der Türkei zu verhandeln. Ein Vorstoß der EU-Kommission für einen gemeinsamen Grenzschutz hat nicht gefruchtet. Die Aufteilung von 160.000 gestrandeten Menschen aus Griechenland und Italien in die restlichen EU-Länder wird seit Monaten von jenen Regierungen torpediert, die nun Athen aus dem Schengen-Raum drängen möchten.
Es ist deshalb auch infam, was hier geschieht. Die politische Führung in Athen mag für viele Fehlentwicklungen verantwortlich sein, für die Ursachen dieser Massenwanderung kann sie nichts. In den monatelangen Verhandlungen über das Hilfspaket in der Schuldenkrise wurden die Kosten für die Betreuung und Registrierung der Flüchtlinge nie eingerechnet. Sie waren vonseiten der Europartner einfach kein Thema, obwohl sich die Belastungen für den griechischen Haushalt längst abgezeichnet hatten.
Das größte Problem bei dieser Art der Notbremse ist aber kein moralisches. Es sind vielmehr die negativen Folgen für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Setzt sich diese Idee durch, so ist zwar das schwächste Glied abgetrennt, aber auch der Zusammenhalt der EU-Staaten aufgelöst. Ungarn und die Slowakei mögen sich kurzfristig freuen, dass sie noch weniger mit muslimischen Zuwanderern konfrontiert sind als bisher. Doch es wird der Tag kommen, an dem auch sie selbst Hilfe bei Flüchtlingswellen aus dem Osten oder bei anderen Krisen benötigen. Sie werden diese nicht mehr erhalten. Kein EU-Land wird sich mehr auf die anderen verlassen können. Und: Wenn das schwächste Glied entfernt ist, wird irgendjemand anderer das neue schwächste Glied sein.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2016)