Österreichische Beiträge: Geyrhalters „Homo sapiens“ ist eine formvollendete Diashow aus dem Nirgendwo, „Kater“ von Händl Klaus kippt schnell ins Künstliche.
Manchmal stellt man sich beim Irren durch das Gewusel auf dem Areal der Berlinale vor, wie es wohl wäre, wenn alle diese Menschen plötzlich weg wären. Keine Schlangen mehr vor den Imbissbuden der Arkadenlokalmeile, keine schaulustigen Mengen an den Absperrungen, keine lautstarken Journalistenhorden im Pressezentrum. Nur noch Nieselregen, der auf die dunklen Promenaden prasselt, und der Wind, der in den Hochhäuserschluchten auf dem Potsdamer Platz mit Papierabfall spielt. Dieser romantische Wunsch nach erhabener Ödnis wird erfüllt in Nikolaus Geyrhalters neuester Arbeit „Homo sapiens“, die bei der Berlinale ihre Weltpremiere feierte und zum Besten gehört, was es hier bisher zu sehen gab.
„Homo sapiens“ ist eine formvollendete Diashow aus dem Nirgendwo. Er reiht statische, großteils symmetrische und zentralperspektivische Digitaltotalen aneinander, deren Bildmotive wie postapokalyptische Ansichtskarten in der Luft hängen: verlassen, verwaist, verwahrlost. Geyrhalter und sein Team suchten vier Jahre lang nach passenden Schauplätzen, der Titel bezieht sich auf ein Menschengeschlecht, das darin zugleich an- und abwesend ist. Kein Mensch ist je im Bild zu sehen oder zu hören, doch die Drehorte verweisen allesamt auf das Lebewesen, das wie kein anderes imstande ist, sich Denkmäler zu setzen: Schulen, Bibliotheken, Bürogebäude, Atomreaktoren, Straßenzüge, Kirchen, Kinos, Krankenhäuser, Gefängnisse, Müllhalden, Vergnügungsparks und aufgelassenes Kriegsgerät – Zivilisationsgehäuse im Zustand mehr oder weniger fortgeschrittener Auflösung und Überwucherung. Beim Anblick dieser in gemessenem Tempo wechselnden (Schnitt: Michael Palm), per Schwarzbild thematisch und topografisch zusammengefassten Verwüstungsgemälde von teils atemberaubender Schönheit überkommen einen gemischte Gefühle. Zum einen strahlen sie große Ruhe aus, wie alle Ruinen. Wenn man sich auf den Film einlässt, hat man bald Anteil an dieser Ruhe, die nicht mit Langeweile zu verwechseln ist – schließlich handelt es sich trotz Menschenleere um tableaux vivants, atmosphärisch belebt vom sorgfältigen Tondesign Peter Kutins und dem einen oder anderen Spezialeffekt (ein Windstoß hier, ein Lichtstrahl da). Aber die durchdringende Leere hat auch etwas Unheimliches. Wie von selbst drängt sich die Frage auf, was bleibt, wenn die Menschheit einmal der Vergangenheit angehört – und wie viel Zeit ihr noch beschieden ist, wenn sie so weitermacht wie bisher.
Beziehungsidyll in den Weinbergen
Während der Mensch in „Homo sapiens“ bloß in Abwesenheit strukturierend wirkt, menschelt es in „Kater“ von Händl Klaus, im Panorama-Special uraufgeführt, trotz des Titels sehr. Im Zentrum stehen Andreas (Philipp Hochmair) und Stefan (Lukas Turtur), die als Traumpaar in den Weinbergen von Hernals ihr Beziehungsidyll genießen. Einer ist Disponent, der andere Hornist beim ORF-Radiosymphonieorchester. Alles ist eitel Wonne, zuhause wie im Kreise der freigeistigen Musikerbekannten, bis ein Gewaltakt wie ein Blitz ins Paradies einschlägt und die Liebe der beiden auf eine harte Probe stellt. „Kater“ besticht vor allem in seiner ersten Hälfte als zwanglos-naturalistisches Partnerschaftsporträt. Hochmair und Turtur haben beide Theatererfahrung, und die Chemie zwischen ihnen ist phänomenal. Ohne Kontaktscheu umspielen und beschmusen sie einander wie zwei – der Titel legt es auf – verliebte Kater. Auch die Sexszenen sind erfreulich locker für einen österreichischen Film. Allerdings geht viel von dieser Leichtigkeit flöten, nachdem die abrupte Zäsur einen Schatten über die Ereignisse wirft. Die unvermittelte Dramatik wirkt wie an den Katzenhaaren herbeigezogen, und ohne triftigen Grund für Tränen und Entfremdung kippt das Schauspiel schnell ins Künstlich-Überzogene.
Bachman-Celan-Briefwechsel
Dieses Problem gibt es bei Ruth Beckermanns „Die Geträumten“ nicht, denn die Künstlichkeit ist hier schon im Konzept angelegt. Beckermann nähert sich dem langjährigen Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, indem sie ihn von zwei Schauspielern – Anja Plaschg und Laurence Rupp – nachsprechen lässt, im (fiktiven) Kontext einer Radiofeature-Aufnahmesession. Was sich in dieser 90-minütigen Leseinszenierung vermittelt, ist die eigentümliche Kraft einer stürmischen, wechselhaften Liebe auf Distanz, gespeichert in den magischen Worten zweier ebenbürtiger Poeten. In den Pausen dürfen die Sprecher leger diskutieren und interpretieren (Rupp: „Vielleicht war der Paul grad voll besoffen und hat einen Hass geschoben auf die Ingeborg!“ Plaschg: „Bei der Beziehung zwischen den zweien hat man nicht das Gefühl, dass irgendwas herausgerutscht sein könnte.“) Die Kamera bleibt dabei meist ganz nah an den jungen Gesichtern, registriert auch deren (unwillkürliche?) Reaktionen auf das Gelesene. Manchmal gehen die Zeilen bis ins Mark, und dann zerdrückt Plaschg eine Träne: „Jetzt Schluss bitte.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2016)