EU protestiert gegen Obergrenzen

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n einem Brief an die Innenministerin beurteilt die Kommission Flüchtlingsobergrenzen als EU-rechtswidrig. Die Regierung gibt sich unbeeindruckt – und will mit Tageskontingenten beginnen.

Wien/Brüssel. Die Nachricht erreichte den Kanzler während seiner Reise zum EU-Gipfel nach Brüssel. Das Treffen sollte, Werner Faymann (SPÖ) ahnte es schon, zu einem der unangenehmeren seiner bisherigen Amtszeit werden: Obergrenzen für Flüchtlinge sind nicht vereinbar mit europäischem und internationalem Recht – so lautet der brisante Befund der EU-Kommission, der dem heimischen Innenministerium am gestrigen Donnerstag in Briefform übermittelt wurde. Bei dem österreichischen Vorhaben, täglich nur noch 80 Asylanträge anzunehmen, handle es sich um einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Konvention und Artikel 18 der Charta der Grundrechte der EU. „Österreich hat die rechtliche Verpflichtung, jeden Asylantrag zu akzeptieren, der auf seinem Territorium oder an seiner Grenze gestellt wird“, mahnt die Brüsseler Behörde in dem der „Presse“ vorliegenden Schreiben. Ob die heimischen Behörden in weiterer Folge auch für das Verfahren zuständig seien, entscheide sich durch die Dublin-Regelung: Demnach muss ein Flüchtling in jenem Land um Asyl ansuchen, in dem er zum ersten Mal Boden der EU betreten hat. Seit Ausbruch der großen Fluchtwelle im vergangenen Spätsommer ist das System aber faktisch tot.

Auch Kontingente für den Transit von Flüchtlingen – Österreich hat sich hier auf 3200 Menschen täglich festgelegt – seien nicht zulässig, erklärt Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos in dem Brief: „Angesichts dieser Erwägungen würde ich Sie dringend bitten, die einseitigen Maßnahmen zu überdenken“, so der Grieche wörtlich in dem Schreiben an Johanna Mikl-Leitner (ÖVP).

Davon aber kann nicht die Rede sein. Die Reaktion des Bundeskanzlers und der Innenministerin erfolgte prompt – und ließ keine Fragen offen: „Es ist undenkbar, dass Österreich ... die Asylwerber für ganz Europa aufnimmt“, so Faymann. „Wir werden wie geplant am Freitag mit den Kontingenten beginnen“, ließ Mikl-Leitner wissen. Für sie ist klar, dass „Migranten ihren Antrag im ersten sicheren Staat stellen und dort auch bleiben sollen. Österreich liegt nicht an der EU-Außengrenze und kann daher nicht das erste sichere Land sein.“ Die Innenministerin will nun ihrerseits eine Rechtsmeinung an Brüssel übermitteln. Auch für Faymann sind die Obergrenzen nur eine natürliche Folge der momentanen Überlastung: „Dass wir aufschreien und sagen, jetzt kommen auch die anderen dran, ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht“, sagte er in einem Telefonat mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker kurz vor dem Abflug nach Brüssel.

Europarechtler Walter Obwexer, der für die Regierung in der Sache ein Rechtsgutachten erstellt hat, betrachtet Tageskontingente ohnehin als „rechtskonformer als Jahreskontingente“. Auf diese Weise sei die Regierung flexibler, erläutert er im Gespräch mit der „Presse“: Sie könne jeden Tag gesondert überprüfen, wer aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei – also theoretisch zurückgeschickt werden könnte. „Das Jahreskontingent von 37.500 Menschen wird auf diese Weise auch nicht so schnell aufgebraucht.“

Warnung: Humanitäre Katastrophe

In der Praxis hat die Kehrtwende der heimischen Bundesregierung freilich unabsehbare Konsequenzen für die Länder der Balkanroute, weil ein Rückstau zu befürchten ist: Bei einem Treffen der Staats- und Regierungschefs von Kroatien, Serbien, Mazedonien und Slowenien mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und Juncker am Vorabend des Gipfels wurde die Angst vor einer humanitären Katastrophe auf dem Balkan laut – eine Sorge, die Tusk auch in einem Vieraugengespräch mit Faymann erläutern wollte.

Doch der gestern begonnene EU-Gipfel lässt Befürworter gesamteuropäischer Antworten auf die Flüchtlingskrise einmal mehr ratlos zurück: Während die deutsche Kanzlerin eine Zusammenarbeit mit der Türkei favorisiert, sprechen sich die Visegrád-Länder für das Abriegeln der Balkanroute aus. Statt dringend nötiger gemeinsamer Lösungen gab es einmal mehr nur dürftige Absichtserklärungen – die Differenzen bleiben vorerst unüberwindbar.

Weitere Infos:www.diepresse.com/fluechtlinge

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2016)

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