„Die Taliban brauchen Legitimität“

N. Haysom, UN-Afghanistan-Beauftragter.
N. Haysom, UN-Afghanistan-Beauftragter.(c) REUTERS (MOHAMMAD ISMAIL)
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Nicholas Haysom, südafrikanischer UN-Sonderbeauftragter für Afghanistan, warnt vor zu hohen Erwartungen an den Friedensprozess im Bürgerkriegsland.

Die Presse: Seit Jahrzehnten kommen afghanische Flüchtlinge nach Europa. Das vergangene Jahr war jedoch außergewöhnlich: Wieso haben 2015 teilweise bis zu 100.000 Menschen pro Monat das Land verlassen?

Nicholas Haysom: Weil sich mit dem Ende der Isaf-Mission der Nato Ende 2014 die allgemeine Sicherheitslage im Land stark verschlechtert hat. Dazu kam noch ein ökonomischer Schock. Denn Ende 2014 haben nicht nur die meisten Nato-Truppen das Land verlassen, sondern mit ihnen auch große Teile der zivilen Infrastruktur. 400.000 junge Leute wollen jedes Jahr in den afghanischen Arbeitsmarkt einsteigen. Arbeit gibt es nur für die allerwenigsten. Die Wirtschaft liegt am Boden, deshalb flüchten so viele.


Flüchten also mehr Leute wegen wirtschaftlicher Faktoren als vor dem Krieg? 

Das kann ich schwer abschätzen. Seit Ende 2014 flüchten aber definitiv mehr Menschen wegen wirtschaftlicher Faktoren als davor.


Werden in Zukunft noch mehr Leute das Land verlassen und nach Europa aufbrechen?

Wenn sich die Verhältnisse in Afghanistan nicht verbessern, kann das durchaus passieren. Wir hoffen aber auf einen Friedensprozess. Der könnte – sobald er in Fahrt gekommen ist – die Lage des Landes in Sachen Wirtschaft und Sicherheit verbessern. Europäischen Ländern kann ich nur raten, jetzt in Afghanistan zu investieren um Stabilität zu schaffen, anstatt später das Geld am anderen Ende für Flüchtlinge auszugeben.


Gibt es in Afghanistan sichere Gebiete, in die Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind, zurückkehren können?

Es gibt auf jeden Fall Regionen im Land, die sicher sind, aber eben auch welche, die es nicht sind. Die Regierung gibt momentan an, dass über 100 der insgesamt rund 400 Bezirke als unsicher gelten.


Was spielt der sogenannte Islamische Staat in Afghanistan für eine Rolle?

Der hat an Territorium dazu gewonnen, das bis jetzt allerdings sehr begrenzt bleibt. Insgesamt gesehen stellen jedoch die Taliban eine weit größere Bedrohung als der Islamische Staat dar, denn sie töten mit Abstand am meisten Zivilisten. Das kann sich jedoch in Zukunft ändern.


Was für eine Strategie verfolgen die Taliban im Moment?

Unter den Taliban gibt es etliche, die verstehen, dass sie internationale Legitimität brauchen, um auf Dauer Territorium zu halten. Diese Legitimität bekommen sie nur, wenn sie an einem Friedensprozess teilnehmen. So etwas hat man auch in anderen Teilen der Welt schon oft gesehen: Die ernsthafte Teilnahme an einem Friedensprozess gibt der Welt die Chance, bewaffnete Gruppen neu zu beurteilen.


Werden die Taliban an den Verhandlungstisch kommen?

Das ist schwer vorauszusagen. Die Taliban sind momentan gespalten, weil sie einen Führungswechsel durchmachen. Letzten Endes werden sie aber darauf reagieren, was die Afghaner wollen: nämlich Frieden. In öffentlichen Reden haben sich die Taliban langfristig auch immer wieder für Frieden ausgesprochen.

Werden - wie von der „Friedensallianz für Afghanistan“ angekündigt - Ende Februar die ersten direkten Friedensgespräche zwischen Regierung und Taliban stattfinden?

Ich würde mir kurzfristig nicht zu hohe Erwartungen machen. Friedensprozesse sind nie simpel oder linear, sie sind kompliziert und brauchen Zeit, um Wurzeln zu schlagen. Man muss wissen, dass es auch Rückschläge geben wird. Aber der Friedensprozess kann auch nicht überleben, wenn wir überhaupt keinen Fortschritt machen. Eine wichtige Entwicklung ist, dass Afghanistan es geschafft hat, die USA und China in den Friedensprozess einzubinden. Ich glaube, der internationale Zugang ist der Schlüssel zum Erfolg.


Was tun Sie, um den Friedensprozess voranzutreiben?

Wir bieten uns als Vermittler an, doch es bringt nichts, wenn die Konfliktparteien mit den Vereinten Nationen Frieden schließen - oder wie man bei mir zu Hause in Südafrika sagt: Der Arzt kann die Medizin nicht für den Patienten nehmen. Letztlich müssen sich die Konfliktparteien dazu entscheiden, miteinander zu sprechen. Die Regierung will und braucht den Frieden - nicht nur wegen der Sicherheitslage, sondern vor allem auch wegen der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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