Was die EU ohne Briten wäre

(c) Bloomberg (Jason Alden)
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Laut Umfragen liegen die britischen Austrittsbefürworter knapp vor jenen, die in der EU bleiben wollen. Was passiert, wenn sich die Briten für einen Exit entscheiden? Und welche Vorteile hätte ein Verbleib.

„Es steht die EU auf dem Spiel, nicht nur ein Land.“ Mit drastischen Worten hat Frankreichs Präsident François Hollande am Freitag die Verhandlungen mit Großbritannien kommentiert. In stundenlangen Gesprächen suchte der britische Premier, David Cameron, eine Einigung mit den EU-Partnern über Sonderregelungen für sein Land. Sie sollen den Verbleib in der Union ermöglichen. Nicht nur einmal wurde Cameron darauf hingewiesen, dass er selbst mit der Ankündigung eines Referendums über die EU-Mitgliedschaft die Lage habe eskalieren lassen.

Nun mussten aber alle gemeinsam versuchen, einen Ausweg zu finden. Die meisten Regierungen waren zwar zu Zugeständnissen bereit, wollten aber selbst keine Nachteile durch den Deal mit London hinnehmen.

Laut einer jüngsten Umfrage liegen die Austrittsbefürworter in Großbritannien mit 36 zu 34 Prozent voran. Die Briten müssen sich voraussichtlich noch vor dem Sommer – geplant ist der 23. Juni – in einer Volksabstimmung entscheiden.
Schafft es David Cameron, seine Bevölkerung von einem Verbleib in der EU zu überzeugen, würde zumindest mittelfristig das Thema Austritt in London keine Rolle mehr spielen. Die EU-Skeptiker müssten sich vorerst mit den Gegebenheiten abfinden, und auch in den anderen Mitgliedstaaten wären die EU-Gegner vorübergehend geschwächt. Ein Ja zur EU würde zudem das Risiko einer schottischen oder gar nordirischen Abspaltung reduzieren. Die Union könnte dieses Zeitfenster nutzen und sich endlich auf die Lösung der aktuellen Krisen konzentrieren.

Wirtschaftliche Vorteile

Für Großbritannien selbst wären die wirtschaftlichen Vorteile der Mitgliedschaft gesichert. Vor allem die britische Exportwirtschaft könnte aufatmen. Die meisten Waren gehen in die EU. Deutschland hat mit einem Anteil von 10,4 Prozent aller britischen Exporte bereits zum traditionell starken transatlantischen Handelspartner, den USA (10,8 Prozent), aufgeschlossen. Es ist anzunehmen, dass ein Verbleib in der Union auch das Pfund, das durch die Austrittsdebatte gelitten hat, wieder stabilisieren würde. Der Finanzplatz London müsste keine Abschottung durch konkurrierende EU-Länder befürchten. Und das Land brauchte sich nicht über eine mögliche Abwanderung von Investoren zu sorgen. Politisch würde sich London die Mitsprache bei EU-Entscheidungen erhalten.

Die EU-Partner würden einen ihrer wichtigsten sicherheitspolitischen Partner behalten. Auch ein Nettozahler für das EU-Budget – voriges Jahr überwies London fünf Milliarden mehr in den Gemeinschaftshaushalt, als es zurückerhielt – bliebe Teil der Union. Die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Binnenmarkts mit negativen Folgen für die Wirtschaft aller Mitgliedstaaten wäre gebannt.

Stabilisierung in Mittelosteuropa

Vor allem aber würde ein Verbleib Großbritanniens die Gefahr eines weiteren politischen Auseinanderdriftens der EU reduzieren. Diese Stabilisierung ist vor allem in Mittelosteuropa zu erwarten. Polen und Tschechien haben sich an London orientiert. Bei einem Austritt würden diese Länder einen wichtigen Partner in der Union verlieren und könnten noch stärker als bisher auf Konfrontationskurs zu Deutschland, Frankreich und den südeuropäischen Staaten gehen.

Die meisten Studien, die sich mit einem Brexit-Szenario auseinandergesetzt haben, prognostizieren sowohl Nachteile für Großbritannien als auch für die EU-Partner im Falle eines Austritts. IHS-Experte Johannes Pollak spricht von „verheerenden Folgen“, müsste das Land den Binnenmarkt verlassen. Dennoch gäbe es für beide Seiten auch positive Aspekte. Großbritannien würde sich seinen Nettobeitrag an den EU-Haushalt ersparen und könnte diese fünf Milliarden Euro jährlich in die eigene Wirtschaft investieren. Britische Unternehmen wären nicht mehr an die Auflagen im EU-Binnenmarkt gebunden.

Eine Reform der EU wäre ohne Großbritannien leichter durchsetzbar. Auf Sonderwünsche aus London müssten die verbleibenden 27 Regierungen nicht mehr Rücksicht nehmen. Konkret könnte das bedeuten, dass etwa der Euro-Fiskalpakt und der Euro-Rettungsfonds ESM, die für eine Absicherung der Währungsunion nur zwischenstaatlich vereinbart wurden, nun Teil des gemeinsamen Vertragswerks werden. Dies ist bisher durch ein Veto Londons verhindert worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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