Chinas ferner Westen in Aufruhr

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Schwere Unruhen haben mindestens 156 Menschenleben gefordert. Die muslimischen Uiguren begehren gegen die Dominanz der Han-Chinesen auf, doch Peking sieht schon wieder „Kräfte im Ausland“ als Drahtzieher.

PEKING. Nach den schweren Unruhen in Tibet vom März 2008 haben jetzt auch in Chinas fernem Nordwesten die latenten Spannungen zwischen den Nationalitäten zu einer Explosion geführt. Mindestens 156 Menschen sind bei schweren Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Sicherheitsbehörden in Urumqi, der Hauptstadt der Grenzregion Xinjiang, getötet worden, mehr als 800 wurden verletzt.

Die chinesischen Sicherheitskräfte gingen in der Nacht zum Montag schwer bewaffnet und mit Panzerwagen gegen Protestzüge der uigurischen Minderheit vor. Gebäude im Zentrum von Urumqi gingen in Flammen auf, Autos wurden umgestürzt.

Auch aus der Oasenstadt Kashgar wurden gestern Proteste gemeldet. Die Polizei soll dort 300 Demonstranten vor einer Moschee umzingelt haben.

Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua meldete auch die Verhaftung von hunderten Demonstranten. Chinesische Bewohner Urumqis berichteten, sie seien von Uiguren auf offener Straße bedroht und angegriffen worden. „Ich sah Uiguren mit großen Messern auf Leute einstechen“, berichteten Bewohner im Internet.

Probleme nicht im Griff

In Chinas Internet erschienen Videofilme und Fotos von wütenden Demonstranten, brennenden Häusern und schwer verletzten Opfern. Später wurden viele Webseiten gesperrt, auch die Telefonleitungen nach Urumqi waren teilweise unterbrochen.

Damit zeigt sich, dass Peking auch im 3000 Kilometer entfernten Xinjiang im Westen seine Probleme mit nationalen Minderheiten nicht in den Griff bekommt. Die Proteste vom Sonntag waren eine Reaktion auf blutige Zusammenstöße zwischen Han-Chinesen und uigurischen Arbeitern in einer Spielzeugfabrik tausende Kilometer weiter im Süden, in der Provinz Guangdong. Dort hatten Han-Chinesen am 25. Juni uigurische Arbeiter angegriffen und zwei von ihnen getötet, nachdem es geheißen hatte, Uiguren hätten eine Han-chinesische Arbeiterin vergewaltigt. Die Behörden erklärten später, dieser Vorwurf sei aus der Luft gegriffen gewesen.

Die Ursache der Spannungen zwischen Han-Chinesen und den muslimischen Uiguren, einem Turkvolk, liegen tiefer. Viele Uiguren fühlen sich von den Han-Chinesen bevormundet, unterdrückt und wirtschaftlich an den Rand gedrängt. Hinzu kommen große kulturelle Unterschiede, die über die Religion hinausgehen. Das Gefühl, im eigenen Land immer mehr marginalisiert zu werden, treibt gerade viele junge Uiguren in die Arme extremistischer Kräfte.

Peking zeigt auf Exil-Uiguren

Die Han-Chinesen stellen rund 92 Prozent der Bevölkerung in der Volksrepublik. In Xinjiang sind die Uiguren in der Mehrheit, aber in der Hauptstadt sind inzwischen große Teile von Han-chinesischen Zuwanderern bewohnt.

Die Pekinger Regierung bezichtigte Exil-Uiguren, die für einen unabhängigen Staat Ostturkestan kämpfen, hinter den Unruhen zu stecken. Die Demonstrationen seien „aus dem Ausland angestachelt und gelenkt“ worden.

Drahtzieher sei vor allem die in den USA lebende uigurische Aktivistin Rabiya Kadeer. Sie ist Präsidentin des Weltkongresses der Uiguren. Als Geschäftsfrau lebte sie einst in Urumqi, bevor sie ins Gefängnis geworfen wurde und schließlich in die USA ausreisen durfte. Uigurische Exilorganisationen wiesen die Vorwürfe zurück.

Die Exil-Uiguren und Menschenrechtsgruppen werfen den chinesischen Behörden vor, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 den weltweiten Kampf gegen den Terrorismus als Vorwand benutzt zu haben, um die Uiguren schärfer kontrollieren zu können. Um Peking als Verbündeten im Kampf gegen den Terror zu gewinnen, setzten die USA die „Ostturkestanische Islamische Bewegung“ (Etim) auf ihre Liste internationaler Terrorgruppen.

Scharfe Kontrollen in Moscheen

Die jetzige Argumentation der chinesischen Behörden im Fall der blutigen Ausschreitungen in Urumqi erinnert an die Reaktion Pekings nach den Unruhen in Tibet und angrenzenden Regionen im März 2008. Damals warf die Regierung Exil-Tibetern, vor allem der „Dalai-Lama-Clique“, vor, die Proteste angestachelt zu haben, um der Volksrepublik zu schaden und sie zu spalten.

Viele Uiguren klagen, die Kontrollen in den Moscheen seien zu scharf. Die Regierung verbietet unter anderem unter 18-jährigen Jugendlichen, in einer Moschee zu beten. Koranunterricht in den Schulen ist ebenfalls untersagt.

Als Reaktion war in Xinjiang in den vergangenen Jahren eine Hinwendung zu einem konservativen Islam zu beobachten. Die Zahl verschleierter Frauen nahm in vielen Orten zu. Die Regierung erklärt, dass sich in Xinjiang terroristische Vereinigungen gebildet hätten, die für eine Loslösung Xinjiangs von der Volksrepublik China kämpften. Anfang des Jahres waren zwei vermeintliche Terroristen öffentlich hingerichtet worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2009)

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