Bhutan auf dem Weg zu Glück

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INDIA-BHUTAN-RELIGION-BUDDHISMAPA/AFP/STRDEL
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Man setzt dort auf Bruttonationalglück statt auf Wachstum. Deshalb sehen Kapitalismusgegner in Bhutan das Paradies auf Erden. Der oberste Glückslehrer kennt die Realität.

Das Land ist winzig, dünn besiedelt und liegt gut versteckt mitten im Himalaja. Aber wenn westliche Kritiker unseres Wirtschaftssystems von Bhutan hören, bekommen sie verlässlich leuchtende Augen. Schon in den 1970er-Jahren hat dort ein autoritärer König das Bruttonationalglück zum Staatsziel erhoben. Glück statt Wachstums: Dieses schlichte Schlagwort löst unter Kapitalismus- und Globalisierungsgegnern bis heute spontane Glücksgefühle aus. Die nüchternen Fakten sind dazu weniger angetan: Bhutan zählt zu den ärmsten Ländern Asiens. Es ist auf Importe von Lebensmitteln aus Indien angewiesen. Die Arbeitslosigkeit unter der Jugend ist hoch. Der Glückskönig ordnete Anfang der 1990er-Jahre die Vertreibung von hunderttausend Nepalesen an, die als Flüchtlinge schon länger im Land lebten. Bis heute hausen sie in Lagern hinter der Grenze. Sein kleines Reich schottete der Monarch lange rigoros von der Moderne ab: Fernsehen und Internet waren bis 1999 verboten. Erst seit wenigen Jahren lässt sein Sohn ein Parlament zu. Klingt nicht nach Hochgefühlen hinter den hohen Bergen.

Ha Vinh Tho sollte es genauer wissen. Der Franzose mit asiatischen Wurzeln ist vor vier Jahren nach Bhutan gezogen, um einen seltsamen Job anzunehmen: Der 64-Jährige leitet eine Art Lehranstalt für Bruttonationalglück. Dort sollen Beamte, Lehrer und Unternehmer die selig machende Staatsdoktrin „lernen und erleben“.

Kein anderes Weltbild. Das klingt in westlichen Ohren befremdlich. Liberale Gesellschaften lassen jeden nach seiner Façon glücklich werden. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zählt zu den Rechten, die der Staat zu schützen hat, das „Streben nach Glück“ – nicht aber das Glück selbst. Wenn eine Regierung ihren Bürgern ein inhaltliches Glücksziel vorgibt, schränkt sie dann nicht die Freiheit ein? Ha Vinh Tho sieht hier keine divergierenden Weltbilder.

Er beruft sich sogar auf Platon und Aristoteles, um klarzumachen, worum es bei diesem Glück gehe: „Nicht um Hedonismus!“ Denn „angenehmen Gefühlen nachzugehen“, danach strebe natürlich jeder für sich. Es gehe vielmehr um die „Eudämonie“: das gute, sinnvolle Leben – „etwas viel Dauerhafteres“. Doch auch, nachdem das geklärt ist: „Wir gehen nicht davon aus, dass die Regierung die Menschen glücklich machen kann oder auch nur soll. Das muss dem Einzelnen überlassen bleiben.“ Der Staat sei nur für die „Rahmenbedingungen“ verantwortlich: „Erziehung, Gesundheit, Bewahrung von Natur und Kultur“ – und ja, natürlich auch für gute Einkommen.

Das klingt vernünftig, aber angesichts des endlosen Hypes um Bhutans „anderen Weg“ ziemlich unspektakulär. Wo liegt überhaupt der Unterschied zu dem, was andere Staaten machen? In der Praxis, meint Ha Vinh Tho. Im Westen, aber auch bei den Nachbarn China, Indien und Nepal schaue man nur auf die materielle Seite: „Je mehr Geld, desto besser“. In Bhutan sei Wachstum „ein Mittel, aber nicht das Ziel“. Tatsächlich ist die Volkswirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten im Schnitt 7,5 Prozent pro Jahr gewachsen – sehr viel für unsere Verhältnisse, eher wenig für ein stark unterentwickeltes Land. Aktiv gebremst wurde aber allenfalls die Produktivität der Landwirtschaft, durch das Verbot von „Chemie“. Doch die Dörfer liegen so hoch und entlegen, dass die Bauern über ihr Niveau als Selbstversorger so oder so nur schwer hinauskommen.

Nun ist es freilich kein Wunder, dass die anderen Prioritäten vor allem in reichen, hoch entwickelten Gesellschaften so viele Freunde finden. Hier sind die materiellen Bedürfnisse weitgehend gestillt. Ha Vinh Tho kennt die Erkenntnisse der Forschung: Solange man arm ist, wirkt sich jede Steigerung des Einkommens noch stark positiv auf das Wohlbefinden aus. Predigt er das richtige Konzept für das falsche Land? „Man darf das nicht so polar sehen.“ Seine neue Wahlheimat wolle aus den Fehlern der Schwellenländer ringsum lernen: der Zerstörung der Natur und der Kluft zwischen Arm und Reich. Bei der Ökologie ist das ganz konkret: Acht Zehntel der Landesfläche Bhutans sind bewaldet. Der Strom kommt zu 100 Prozent aus erneuerbarer Energie, was angesichts der steil herabstürzenden Wassermassen aber keine Kunst ist – der Export von Hydroelektrizität nach Indien ist der größte Devisenbringer. Die Hoffnung, dass arme Staaten hier Stufen überspringen können, darf sich durch das Beispiel Bhutans bestärkt sehen. Weniger plausibel erscheint das beim Sozialen: Die meisten Ökonomen sehen in wachsender Ungleichheit in Ländern wie China ein notwendiges, vorübergehendes Entwicklungsstadium, ähnlich der industriellen Revolution im Europa des 19. Jahrhunderts. Wenn die einen noch auf den Feldern arbeiten und die anderen schon in der Fabrik, muss die Schere auseinandergehen. Das ließe sich wohl nur durch ein Ausbremsen jedes Fortschritts vermeiden – und alle blieben arm.

Fluch der Bildung.
In Ost wie West gilt jedenfalls: Richtig unglücklich macht, keine Arbeit zu haben. Dass es in Bhutan so viele Jugendliche ohne Perspektive gibt, führt Ha Vinh Tho auf Fehler in der Bildungspolitik zurück – der „Schattenseite“ eines „unglaublichen Fortschritts“: „Heute geht jedes Kind zur Schule, auch im kleinsten Dorf, und alles ist kostenlos, bis zur Uni“. Dorthin hat man die Jungen gedrängt.

Die Folge: Zu viele Akademiker, für die es „in einem so kleinen Land keine Arbeit gibt“. Dafür fehlen Handwerker. Die Volksbildungsstätte des Franzosen bietet nun einen Kurs an, der bei der Jugend – man höre und staune – „den Unternehmergeist wecken soll, damit sie nicht alle Beamte werden wollen“. Das Lernziel: „Selbst eine Idee haben und Initiative ergreifen“. Denn ja, auch das kann glücklich machen.

Und Ha Vinh Tho selbst? „Ich lebe sehr gern in Bhutan. Die Natur ist dort noch unglaublich stark.“ Für den Buddhisten ist es auch „eine schöne Sache, in einem Land zu leben, wo diese Tradition noch so lebendig ist“. Seine Botschaft: „Es ist unfair, sich in Bhutan einen paradiesischen Zustand vorzustellen. Es ist ein kleines Land mit vielen Problemen. Aber es versucht ehrlich, seinen Weg zu gehen“.

Steckbrief

Ha Vinh Tho
kam 1951 in Toulouse zur Welt. Sein Vater, ein Diplomat, entstammte einem Adelsgeschlecht aus Vietnam, die französische Mutter kam aus einer Arbeiterfamilie.

Der Pädagoge
studierte in der Schweiz und arbeitete von 2005 bis 2011 als Direktor beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes.

Seit 2012 leitet er das Gross National Happiness Center in Thimphu, der Hauptstadt von Bhutan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2016)

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