Mehr Mut zur Kunst im Kinomeer

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GERMANY-ENTERTAINMENT-CINEMA-BERLINALEAPA/AFP/POOL/BERND VON JUTRCZENK
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Die Lampedusa-Doku „Fuocoammare“ erhielt zu Recht den Goldenen Bären der Berlinale: Sie ist künstlerisch kraftvolles und politisch brisantes Kino.

Die Berlinale ist bekannt dafür, mit dem Hauptpreis ein politisches Statement zu setzen. „Fuocoammare“ galt daher schon im Vorfeld als Favorit, zu Recht: Nach einer eher schnörkellosen Abschlusszeremonie überreichte die internationale Jury unter der Leitung von Meryl Streep gestern, Samstag, den Goldenen Bären an Gianfranco Rosis Lampedusa-Dokumentation. Die Auszeichnung stand auch im Einklang mit den Spendenaktionen und Patenschaften, mit denen das Festival einen Beitrag zur Flüchtlingshilfe zu leisten gedenkt, außerdem mit den Schwerpunkten der Nebenschienen und mit kleineren Preisen an Kurzfilme zum Thema.

Einwohner und Schrecken auf See. Inakzeptabel sei es, die flüchtenden Menschen dem Tod zu überlassen, sagte Rosi bei der Preisverleihung. Er sei nicht erfreut über die politischen Entwicklungen in Europa und hoffe, sein Film könne neues Bewusstsein schaffen für das Leid der Flüchtlinge. Der italienische Dokumentarist begab sich 2014 auf die als Flüchtlingshafen in den Schlagzeilen überpräsente Insel Lampedusa, um einen Kurzfilm über die dortige Lage zu drehen. Der Kontakt mit den Menschen bewog ihn dazu, ein ganzes Jahr zu bleiben, und die Frucht dieses Aufenthalts ist ein längeres, impressionistisch gestaltetes Orts- und Zeitporträt, das den Schrecken auf See unverblümt und ohne Off-Kommentar neben den Alltag der Einwohner stellt. Rosi zeigt beispielsweise den sympathischen Rotzbengel Samuele, wie er mit seiner selbst geschnitzten Steinschleuder auf Kakteen schießt, oder einen Radio-DJ, der auf Wunsch seiner Hörer sizilianische Schlager über den Äther sendet. Durch denselben Äther geistern auch die herzzerreißenden Funksprüche der überfüllten Boote, die hier seit zwanzig Jahren ankommen – oder kentern.


„Helft uns!“ Die Küstenwache fragt nach präzisen Koordinaten, zurück kommt nur: „Um Gottes willen, helft uns!“ Zwischenzeitlich stürzt der Film den Zuschauer mitten in die Tragödie an Bord der Patrouillenschiffe und in den Auffanglagern, ohne falsche Scheu vor dem unerträglichen Bild. Aber er lässt die geretteten Menschen auch für sich sprechen, und ebenso einen ortsansässigen Arzt, dessen finale Ausführungen einem das Ausmaß der Misere erst richtig bewusst machen. Die selektive Engführung von Normalität und Ausnahmezustand, die „Fuocoammare“ unternimmt, ist durchaus angreifbar, aber ihre künstlerische Kraft lässt sich nicht von der Hand weisen.


15 Programmsektionen, über 400 Filmbeiträgen – auf der Berlinale ist man gezwungen, sich Grenzen zu setzen, sonst verliert man schnell den Überblick. Der heurige Wettbewerb spiegelte diesen Hang zu Dispersion; er fasste verschiedenste filmische Perspektiven, eine durchgängige Haltung war nicht auszumachen. Zwar waren diesmal kaum Ausnahmewerke dabei – besonders im Vergleich zu 2015 –, dafür gab es insgesamt mehr gewagte Ansätze, mehr ästhetischen Willen und Mut zur Kunst. Daran änderte auch eine Hand voll Selektionsfehltritte nichts (z. B. verzichtbare Arthaus-Nettigkeiten wie Dominik Molls skurrile Familienposse „Des nouvelles de la planète Mars“ oder das schrullige Weingebiet-Werbevideo „Saint Amour“ mit Gérard Depardieu und Benoît Poelvoorde).

Beste Regie für „L'avenir“. Verdient ist der Regiepreis für das fluide Narrativ von Mia Hansen-Løves „L'avenir“, in dem Isabelle Huppert als Philosophielehrerin auf dem Scheideweg brilliert. Zu den ambitioniertesten Arbeiten zählten auch „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ von Lav Diaz (Alfred-Bauer-Preis für seine „neue Perspektive“). Das achtstündige Epos nimmt die philippinische Revolution des 19. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer Auslotung der nationalen Identität des Inselstaats, indem es Motive aus Mythen, Legenden, Literatur, Historie zu einem kargen Monumentalwerk verquickt, dessen meist statische, gedehnte Einstellungen in stechendes Digital-Chiaroscuro gegossen sind.


Auch „Cartas da guerra“ des Portugiesen Ivo M. Ferreira nutzt Schwarz-Weiß als Stilmittel poetischer Verfremdung vor konfliktgeladenem Hintergrund: Der Film schickt den Zuschauer auf einen elliptischen Streifzug durch den Kolonialkrieg in Angola aus der Perspektive des Arztes und Schriftstellers António Lobo Antunes; dessen ausdrucksstarke Briefe an seine geliebte Frau dominieren die Tonebene und bezeugen sein politisches Erwachen – der explizite Kunstwille des Films fand in Berlin nicht nur Freunde. Formal am anspruchsvollsten war aber der chinesische Beitrag „Crosscurrent“, dessen Kameramann Mark-Lee Ping-Bing den Preis für „herausragende künstlerische Leistung“ erhielt. Er kombiniert bildgewaltige (auf Film gedrehte) Ansichten des Jangtse-Flusslaufs mit einer komplex-metaphysischen Erzählstruktur: Der Kapitän eines Frachters reist flussaufwärts, während die gegenläufige Pilgerreise seiner Herzdame im Rückwärtsgang erzählt wird. In puncto Rätselhaftigkeit wurde er nur von dem iranischen Beitrag „A Dragon Arrives!“ übertrumpft, der in einer faszinierenden Kreuzung aus Fantasy, Krimi und Reenactment sämtliche Realitätsebenen durcheinanderwirbelt.

Tolle Frauenrollen. Den männlichen Schauspielpreis gewann Majd Mastoura für seine Darstellung eines emotional gehemmten Muttersöhnchens in „Inhebbek Hedi“. Vor allem aber bot das Berlinale-Programm tolle Frauenrollen: in Thomas Vinterbergs „Kollektivet“ mit Trine Dyrholm (Preis für die beste Darstellerin), Anne Zohra Berracheds „24 Wochen“ mit Julia Jentsch und im polnischen Entfremdungsdrama „United States of Love“, das den Drehbuchpreis gewann. Die stärksten Performances stammen allerdings von jüngeren Darstellern aus „Quand on a 17 ans“, André Téchinés unaufdringlich schönem Coming-of-Age-Drama über junge schwule Liebe: Kacey Mottet Klein und der Newcomer Corentin Fila spielen Landjungen, die sich erst prügeln müssen, bevor sie draufkommen, dass sie sich küssen wollen. Téchinés Film erfindet das Rad nicht neu, und seine Qualitäten sind altmodisch – aber genau das kann oft ein Rettungsanker sein im Kinomeer eines Festivals.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2016)

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