Großbritannien: Brexit als Machtspiel zweier alter Freunde

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FILES-BRITAIN-EU-POLITICS(c) APA/AFP/POOL/STEFAN ROUSSEAU (STEFAN ROUSSEAU)
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Londons Bürgermeister Boris Johnson und Premierminister David Cameron blicken auf einen langen gemeinsamen Weg zurück. Jetzt wittert Johnson seine politische Chance und stellt sich an die Spitze der EU-Gegner.

London. „The History Boys“ von Alan Bennett aus dem Jahr 2004, eines der beliebtesten britischen Theaterstücke der Gegenwart, schildert den Werdegang einer Gruppe ebenso talentierter wie privilegierter Jugendlicher in ihren Vorbereitungen auf die Elite-Universitäten Cambridge und Oxford. Premierminister David Cameron und sein Parteifreund, der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, sind archetypische Vertreter dieser britischen Elite, die scheinbar für immer an den Hebeln der Macht im Lande sitzt. Mit der Entscheidung für oder gegen den Verbleib in der EU werden die beiden „History Boys“ in wenigen Wochen tatsächlich Geschichte schreiben. Und just über die Geschichte heißt es in dem Stück: Sie sei „die fortlaufende Chronik der verschiedenen und anhaltenden Arten des Versagens der Menschheit“.

In der Auseinandersetzung finden sich die beiden Schul- und Studienfreunde, die einst so manche Nacht zum Tag gemacht haben und auf stürmische Zeiten in Oxford zurückblicken, allerdings auf entgegengesetzten Seiten: Cameron preist seinen Deal mit den EU-Partnern als beste Lösung für sein Land, das damit „stärker, sicherer und wohlhabender“ sei. Johnson hingegen erklärt: „Es gibt nur einen Weg, die Änderungen zu bekommen, die wir wollen, und das ist der Austritt.“

Auch wenn der Bürgermeister die Öffentlichkeit, seine Regierung und seinen Jugendfreund Cameron in einem schmerzhaft scheinenden Schauspiel („Hier stehe ich und kann nicht anders“) auf seine Entscheidung warten ließ, gab es für ihn in Wirklichkeit keine andere Option. Johnsons Popularität ist für das „Out“-Lager der lange erwartete Turboauftrieb. Nach Umfragen wird er nach Cameron den zweitgrößten Einfluss auf die Entscheidung der Briten haben.

Die richtige Seite der Geschichte

Johnson mag noch so sehr leugnen, dass er sich von Karrieremotiven leiten ließ. Die Wahrheit hingegen ist: Mit einem Ja zur EU hätte er sich in eine Reihe hinter Cameron stellen müssen. „Boris mag es gar nicht, seine politische Dynamik irgendwo einreihen zu müssen“, meint der „Guardian“-Kolumnist Rafael Behr. Gewinnt das Ja-Lager, hätte er wohl bestenfalls den Posten des Außenministers bekommen.

So war die einzig wahre Wahl für ihn, sich zum Sprachrohr der Anti-EU-Strömung in der Tory-Partei zu machen. Er setzt damit alles auf eine Karte. Gewinnt das Nein-Lager, wird Cameron sein Amt nicht verteidigen können und Johnson unaufhaltbar sein, auch wenn er nun mit Politikern weit jenseits vom britischen Mainstream gemeinsame Sache macht. In seiner Biografie über Winston Churchill schrieb Johnson: „In einem gewissen Ausmaß sind alle Politiker Spieler mit Ereignissen. Sie versuchen vorauszusehen, was geschehen wird, um sich selbst auf der richtigen Seite der Geschichte zu positionieren.“

Ob er das Zeug dazu hat, in die Fußstapfen eines Winston Churchill zu treten, bleibt allerdings fraglich. Er amüsiert und unterhält die Briten mit seinem Humor, seiner Wortgewalt und seiner sorgsam kultivierten Exzentrik, symbolisiert durch seinen wirren Haarschopf. Er hat als Tory zweimal den Bürgermeisterposten in einer traditionell zu Labour-neigenden Stadt wie London gewinnen können. Er verwendet enorm viel Mühe darauf, hinter der Maske des Clowns sein wahres Gesicht eines ungemein ehrgeizigen und machtbewussten Politikers zu verbergen.

Zugleich ist aber seine Leistungsbilanz sehr bescheiden. Mehr als zahlreiche unfertige Radwege werden aus seinen acht Jahren an der Macht in London nicht zu Buche stehen, wenn im Mai sein Nachfolger bestimmt wird. Weil er jedoch anders als (fast) alle anderen Politiker zu sein scheint, lieben die Briten ihren Boris, wie ihn das ganze Land nennt. Er unterhält die Menschen. Aber ist das genug, um sie in einer Schicksalsfrage wie der EU-Zukunft zu führen?

Details und demonstrativer Unernst

Für die History Boys ist alles ein Spiel, von dem sie wissen, dass am Ende immer die anderen den Preis zahlen. Das Pfund fiel nach Johnsons Ankündigung auf den niedrigsten Stand seit 2007. Sie beide kennen keine materiellen Sorgen. Johnson wird etwa für seine Kolumnen wie ein Fußballer bezahlt, Cameron wurde mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren. Beide handeln in dem unerschütterlichen Glauben, dass ihnen nichts passieren kann und alles zusteht.

Kritiker werfen Johnson gern seinen demonstrativen Unernst vor. Cameron hingegen wird vorgeworfen, dass er über den Dingen stehe, sich nicht in Details vertiefe und alles andere als ein von Visionen erfüllter Gestalter sei. Er lasse die Dinge gern treiben, und wenn es kritisch werde, dann wolle er Entscheidungen erzwingen, indem er alles auf eine Karte setze. So geschehen im Jahr 2014, als über die Unabhängigkeit Schottlands eine Volksabstimmung abgehalten wurde. So wird es demnächst wieder in der EU-Volksabstimmung am 23. Juni sein.

Zu spät gehandelt?

Die History Boys im Theaterstück jedenfalls sind mit allen Dingen beschäftigt, nur auf ihre Prüfung bereiten sie sich nicht vor. Zum Vergleich hat Premier Cameron wiederholt gezeigt, dass er in dieser „Fünf-Minuten-vor-Abgabe-der-Schularbeit“-Panik zu Hochform auflaufen vermag. Aber vielleicht hat er es diesmal zu spät werden lassen und in seinem Jugendfreund Boris Johnson seinen Meister gefunden. In dem Stück erklärt ein Lehrer seinen Schülern: „Geschichte hat heute nichts mehr mit Überzeugung zu tun. Es geht um die Aufführung und die Unterhaltung. Wenn es das nicht ist, musst du es dazu machen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2016)

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