China: „Gleich kommen sie wieder und schlagen zu“

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In der Hauptstadt der westchinesischen Unruheprovinz Xinjiang herrscht Ausnahmezustand. Han-Chinesen wollen in den Straßen Rache an den Uiguren nehmen. Ein nächtliches Ausgehverbot wurde verhängt.

Auf der Straße der Freundschaft in Urumqi scheint das Leben stillzustehen: Vor den Häusern und Einfahrten bilden sich Grüppchen von Anwohnern, einige halten Knüppel in den Händen, alle warten auf etwas. Bewaffnete Polizisten in grünen Uniformen und schwarz gekleidete Antiaufruhrtruppen stehen vor Tankstellen und wichtigen Regierungsgebäuden.

„Geht nach Hause!“, ruft ein junger Mann, „gleich kommen sie wieder und schlagen zu.“ Ein anderer sagt: „Eben hat es eine Explosion gegeben, vielleicht am Busbahnhof, Genaues wissen wir auch nicht.“

Vor dem Sheraton-Hotel rollen die Angestellten einen Feuerlöschschlauch aus. Taxifahrer weigern sich Passagiere mitzunehmen. „Die Han-Chinesen wollen sich rächen“, flüstern sich die Leute zu. Diesmal sind es nicht die Uiguren, vor denen sie Angst haben, wie sich herausstellt, sondern ihre eigenen Leute: In den folgenden Stunden sammeln sich immer mehr Gruppen junger Männer und Frauen, die mit Stöcken und Äxten bewaffnet durch die Straßen der Stadt ziehen. „Wir nehmen unsere Sicherheit selbst in die Hand. Die haben Kinder kaltblütig umgebracht“, ruft ein Demonstrant.

„Ein politischer Kampf“

Es herrscht Ausnahmezustand in Urumqi, der Hauptstadt der Grenzregion Xinjiang. Am Dienstag verhängte der KP-Chef von Xinjiang, Wang Lequan, über die ganze Provinz ein nächtliches Ausgehverbot. Zwischen neun Uhr abends und acht Uhr morgens müssen die Menschen in ihren Häusern bleiben. „Um weiteres Chaos zu verhindern“, erklärte der KP-Chef.

Vor zwei Tagen endete ein Protestzug von mehreren hundert Uiguren mit blutigen Krawallen. Seither hat es in verschiedenen Vierteln mehrere Zusammenstöße gegeben. An einigen Stellen riegeln Polizisten die Straßenzüge ab, an anderen lassen sie die Menge durch. Das Mobiltelefonnetz ins Ausland ist blockiert, das Internet gesperrt. Der Parteichef und der Bürgermeister der Stadt Urumqi geben vor Journalisten gegen Mittag die neuesten Zahlen bekannt: 156 Menschen sind seit Sonntag ums Leben gekommen, über 800 wurden verletzt, mehr als tausend haben die Behörden in den vergangenen Tagen festgenommen.

Wer schuld an den Unruhen schuld ist, ist längst ausgemacht: „Die Separatistin Rebiyaund ihre Clique von Terroristen wiegeln eine kleine Gruppe von Menschen auf“, sagt Stadtparteichef Li Zhi. Es gehe ihnen darum, „die Einheit der Völker Chinas und die Stabilität des Landes zu zerstören“.

„Es geht hier nicht um Nationalitäten oder Religionskonflikte“, führt Li weiter aus, „sondern um einen politischen Kampf.“ In der autonomen Region Xinjiang leben rund 20 Millionen Menschen, darunter etwa acht Millionen muslimische Uiguren, knapp zehn Millionen Han-Chinesen, außerdem mehrere kleine Volksgruppen.

Geradezu unheimlich scheint die Parallele zwischen den Unruhen in Tibet im März 2008 und der Situation in Xinjiang in diesen Tagen. Auch in Xinjiang fühlt sich die angestammte Bevölkerung von den wirtschaftlich stärkeren Han-Chinesen an den Rand gedrängt. Eine offene Debatte über die Religionspolitik der Regierung ist zudem nicht möglich. Peking leugnet die seit Jahren wachsenden Spannungen in ihren Grenzregionen – und sucht stattdessen einen Sündenbock außerhalb des Landes.

Hintergründe bleiben offen

Mit der „Separatistin Rebiya“ ist die Uigurin Rebiya Kadeer gemeint, die es als Geschäftsfrau in Urumqi zu Wohlstand gebracht hatte, dann aber wegen der Kritik an der Regierung sechs Jahre lang im Gefängnis saß. Inzwischen lebt sie in den USA, ist Präsidentin des Uigurischen Weltkongresses und in den Augen Pekings – wie der Dalai Lama für Tibet – Hauptfeind Nummer eins für Xinjiang. So schnell die Behörden mit der Schuldzuweisung an Drahtzieher im Ausland sind, zurückhaltend sind sie, wenn es darum geht, etwas über die Hintergründe der Unruhen vom Sonntag zu sagen: „Wie viele der 156 Toten sind Han-Chinesen, wie viele Uiguren oder andere?“, fragt eine Reporterin. „Wir sind noch dabei, das zu untersuchen“, sagt der Parteichef.

So viel ist unumstritten: Bei den Unruhen sind sehr viele Han-Chinesen ums Leben gekommen, aber auch Uiguren und Angehörige anderer Volksgruppen wurden angegriffen.

„Sie beschützen uns nicht“

Wie leicht entflammbar die Atmosphäre ist, zeigt sich, als die Behörden den ausländischen Journalisten eine Straße zeigen, in der mehrere Geschäfte während der Krawalle in Brand gesteckt worden sind. Aus den angrenzenden Häusern eilen überwiegend uigurische Bewohner herbei, klagen und weinen.

Sie berichten, dass die Polizei bei einer Razzia in der Nachbarschaft über hundert Männer und Kinder festgenommen und verprügelt hätte. Einige seien erschossen worden. Nachzuprüfen ist das nicht. „Sie haben meinen 14-jährigen Sohn Mehmet Tursun Kadi mitgenommen“, schluchzt eine Frau, „ich weiß nicht, wo er ist, er ist doch ein Kind.“

Ein etwa 50-jähriger Mann mit Bart wiederholt ein ums andere Mal „Wir wollen nur Gerechtigkeit und Freiheit, nichts anderes. Sie beschützen die Han-Chinesen, aber uns nicht.“ „Glauben Sie denen nichts“, sagt ein Han-chinesischer Polizist, „die Uigurinnen verstecken die Waffen ihrer Männer unter den Kleidern.“

Rund hundert Uiguren, vorwiegend Frauen und Kinder, demonstrieren nun auf der Straße, fordern die Freilassung ihrer Angehörigen. Bewaffnete Polizei mit Wasserwerfern, Gewehren und langen Schlagstöcken kesseln die Gruppe ein. Nach einer guten halben Stunde ziehen die Frauen in eine Seitengasse ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2009)

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