In Wien blüht der offene Drogenhandel

U6 Drogenhotspot, Thaliastraße und Josefstädterstraße, Johann Strauß Park
U6 Drogenhotspot, Thaliastraße und Josefstädterstraße, Johann Strauß ParkStanislav Jenis
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Die Bezirkspolitik ruft um Hilfe. Die Polizei ist überfordert. Die städtische Drogenkoordination will die Reparatur verunglückter Gesetze.

Der Vorsteher des 7. Wiener Gemeindebezirks, Thomas Blimlinger von den Grünen, nicht gerade für harte Law-and-Order-Politik bekannt, warnt also Schulen und Eltern vor der „offenen Drogenszene“. Diese breitet sich seit Monaten in und um Stationen der U-Bahn-Linie 6 aus. Die Situation sei „vollkommen inakzeptabel“, sagt Blimlinger. „Die Presse“ berichtete exklusiv. Und nun?

Die Polizei arbeitet sich gerade an zwei Fronten ab. Zum einen hat sie gegen den Vertrauensverlust zu kämpfen, der nach der Silvesternacht in Köln (Angriffe von nordafrikanischen Tätern auf Frauen) auch Österreich erreicht hat. Da lautet seither der Vorwurf: „Die Polizei kann uns nicht schützen.“ Zum Zweiten hat sich in Wien das ungute Gefühl der Machtlosigkeit gegen immer dreistere Drogenhändler-Banden eingestellt. Dem versucht die Exekutive mit Präsenz entgegenzuwirken.

Täglich sind bis zu hundert Beamte an den Hotspots im Einsatz. Die Zahlen sprechen Bände: Allein im zweiten Halbjahr 2015 gab es pro Tag im Durchschnitt 172 Identitätsfeststellungen (insgesamt 31.306). An jedem Tag dieses Halbjahres wurden im Schnitt neun Personen festgenommen. Fast 3000 Anzeigen nach dem Suchtmittelgesetz wurden erstattet. Und nun?

Ermittler an ihren Grenzen

Was soll den Tätern schon groß geschehen. Diese profitieren von einer Entkriminalisierung des Suchtmittelmissbrauchs bzw. vom Wirken des Gesetzgebers, der die Voraussetzung für den Verdacht auf gewerbsmäßigen Drogenhandel offenbar so ansetzt, dass eben diese Gewerbsmäßigkeit nur noch mit Ermittlerglück nachweisbar ist. Es war ja die Gewerbsmäßigkeit, die vor der Gesetzesnovelle (Inkrafttreten: 1. Jänner 2016) die Dealer in U-Haft brachte. Nein, dafür, nämlich für einen Gesetzgeber, der vorhat, die Gefängnisse zu leeren (und damit zumindest in Sachen Drogen nun „Erfolg“ hat) – dafür kann die Polizei wirklich nichts.

Wie das in der Praxis, bei Sozialarbeitern und Streetworkern, ankommt, bringt Andrea Jäger, Leiterin des Bereichs Öffentlicher Raum und Sicherheit in der Sucht- und Drogenkoordination Wien, so auf den Punkt: „Seit der Neudefinition der Gewerbsmäßigkeit hat der Drogenhandel oft keine Konsequenzen für die Händler. Wir halten daher eine Reparatur der entsprechenden Gesetze für sinnvoll.“

Ehrlich erstaunt blicken derzeit alle Beteiligten auf die Art und Weise, wie Drogen angeboten werden. Ganze Pulks von Dealern, manchmal bis zu 25 Personen, warten in den U-Bahn-Stationen auf Kundschaft. Die Täter sind vielfach junge Männer aus Nord- und Westafrika, Leute aus Mazedonien, Serbien, dem Kosovo und freilich auch aus Österreich. Angeboten werden außer den gängigen Suchtmitteln Kokain und Heroin vor allem Cannabisprodukte, etwa Marihuana.

„Die Ungeniertheit, die offensive Form, irritiert praktisch alle“, sagt Andrea Jäger. Ein mögliches Rezept: „Das entgeltliche Anbieten im öffentlichen Raum sollte wegen des hohen sozialen Störwerts unter Strafe gestellt werden.“ Die Betonung liegt hier auf dem Wort „öffentlich“. Blendet man auf die andere Seite, auf die der Abnehmer, so plädiert Jäger (sie ist gelernte Sozialpädagogin) für Toleranz: „Suchtkranke haben auch ein Recht, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten.“ Tun sie dies, so werden sie derzeit von 50 „mobilen Sozialarbeitern im öffentlichen Raum“, alle in roten Jacken, und von zusätzlich 16 Streetworkern der Wiener Suchthilfe betreut. Diese Helfer versuchen, Beziehungen zu den Drogenkranken aufzubauen und diese zu informieren – etwa über Tageszentren, Therapie- und/oder Wohnplätze. Eine Sisyphusarbeit.

Was sagen Justiz- und Innenressort zur Problematik? Da gibt es eilfertige Absichtserklärungen. Wolkige Versprechen, sich für eine Problemlösung einzusetzen. Und da werden, wie immer, „Gespräche geführt“. Konkrete Lösungsvorschläge gibt es seitens der Politik nicht. Klar: Geschehen muss etwas. Andrea Jäger grenzphilosophisch: „Ich glaube nicht, dass wir je so weit kommen, in einer so heilen Welt zu leben, in der niemand mehr Substanzen missbräuchlich verwendet.“

Die Polizei will sich nicht auf das Prinzip Hoffnung verlassen. Sie sehnt Präzedenzfälle herbei, wartet auf das Diktum unabhängiger Gerichte, denen es obliegt, Gesetze auszulegen und damit Recht nicht nur anzuwenden, sondern solches auch zu schaffen.

Siehe da: Eine brandneue Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Wien könnte zum Wegweiser werden. In seinem Beschluss vom 23. Februar (das war der vorige Dienstag) räumt das Gericht mit einer – auch medial – sehr weit verbreiteten (Rechts-)Ansicht auf, nämlich, dass die viel zitierte Gewerbsmäßigkeit bei Drogenhandel im Wesentlichen nur dann vorliege, wenn die Polizei einen Täter beim dritten Drogenverkauf ertappt.

Eine einzige Kugel Kokain

Das Gericht erinnert in seiner Entscheidung (20 Bs 22/16f) an einen Punkt, der Rechtskundigen freilich bekannt ist, aber offenbar so gar nicht als Rettungsanker gesehen wird: Auch wer erst bei einem Verkauf ertappt wird, aber Anlass zu der Annahme gibt, er habe schon mindestens zwei weitere Taten „im Einzelnen“ (Gesetzestext) geplant, darf durchaus als gewerbsmäßiger Täter angesehen werden.

Wie wenig verkauften „Stoff“ es braucht, um bereits von Gewerbsmäßigkeit auszugehen, illustriert der gegenständliche Fall eindrucksvoll: Der mutmaßliche Dealer Peter S. soll am 20. November des Vorjahres in Wien der Abnehmerin H. „eine Kugel Kokain zum Preis von zehn Euro“ (!) überlassen und dadurch gegen das Suchtmittelgesetz verstoßen haben. Der zuständige Staatsanwalt ging dabei tatsächlich von Gewerbsmäßigkeit aus.

Der zuständige Richter des Straflandesgerichts sah die dafür erforderlichen Voraussetzungen als „nicht gegeben“ und erachtete sich angesichts dieser Anklage als unzuständig. Laut OLG tat der Richter dies „vor allem mit Blick auf die seit 1. Jänner 2016 geltende Neufassung des § 70 Strafgesetzbuch“ (genau dort wird die ominöse Gewerbsmäßigkeit definiert). Doch der Richter sollte falschliegen, der kühne Staatsanwalt recht bekommen.

Denn: Erstens lasse die „professionelle Vorgangsweise“ von S. den „begründeten wie qualifizierten Verdacht“ zu, „zwei weitere solche Taten schon im Einzelnen geplant oder schon zwei solche Taten begangen“ zu haben. Zweitens sei auch die nächste Voraussetzung, die der denkbar liberale Gesetzgeber verlangt, erfüllt: Tatausführung in der Absicht, sich ein fortlaufendes Einkommen zu verschaffen. Von durchschnittlich monatlich mehr als 400 Euro ist im Gesetz die Rede. Eine wahrlich hohe Schwelle.

Zu hoch für die OLG-Richter. Schließlich seien bei S. „Banknoten in einer für die Abwicklung von Suchtgiftgeschäften typischen Stückelung von über 225 Euro sichergestellt“ worden. Die Absicht, mehr als 400 Euro im Monat zu verdienen, könne aus diesem Umstand zwanglos abgeleitet werden. Sagt das Oberlandesgericht. Und liefert damit Bezirksvorstehern, Schulen, Eltern und Sozialarbeitern Grund für Optimismus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2016)

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