KZ-Tagebuch: "Babys schmolzen weg wie Schnee"

Joods Historisch Museum
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Heute startet "Das Tagebuch der Anne Frank" in den heimischen Kinos. Weniger bekannt sind die Aufzeichnungen von Klaartje de Zwarte-Walvisch, die jetzt auf Deutsch erschienen sind.

Jener Moment, der letztlich ihre Ermordung besiegeln sollte, ist im Tagebuch mit nüchternen Worten beschrieben: "Am Nachmittag des obengenannten Datums wollte ich mich gerade auf den Balkon setzen, um ein wenig zu lesen, als es klingelte." Am 22. März 1943 holen von der deutschen Besatzungsmacht beauftragte "Judenfänger" die 32-jährige Klaartje de Zwarte-Walvisch und ihren Mann aus ihrem Haus in Amsterdam. Das Paar wird in das KZ Herzogenbusch (niederländisch Camp Vught) gesperrt, dessen grausamen Alltag Zwarte-Walvisch in einem Notizbuch und drei Schulheften präzise festhält. Am 16. Juli 1943 wird sie im Vernichtungslager Sobibór ermordet.

Erst vor wenigen Jahren wurde das Tagebuch der Jüdin zufällig entdeckt, auf dem Dachboden ihres Schwagers. "Eine kleine Sensation" nennt es der Verlag, gibt es doch kaum ausführliche Aufzeichnungen direkt aus Konzentrationslagern. In den Niederlanden ist das Buch bereits 2009 erschienen, nun wurde es auch auf Deutsch herausgebracht - kurz vor dem Kinostart von "Das Tagebuch der Anne Frank". Während das deutlich bekanntere Tagebuch des Teenagers mit der Verhaftung endet, beginnt jenes von Zwarte-Walvisch damit erst.

Überraschend kommt dieser Tag für die Näherin nicht: "Zu jeder Zeit rechnete man damit, abgeholt zu werden", schreibt sie in ihrem ersten Eintrag und schildert, wie einer der beiden "Judenfänger" Klavier spielt, während man auf die Rückkehr ihres Ehemanns Joseph wartet. Die Ankunft in der Sammelstelle in Amsterdam bezeichnet sie als ihren "ersten Eintritt in die Hölle". In dem Theater Hollandsche Schouwburg werden "Menschenmassen um Menschenmassen gegeneinandergedrückt", nur wenige finden auf Matratzen am Boden Platz. "Immer neue Transporte wurden hereingebracht, und ich frage mich, was wohl mit all diesen Leuten geschehen sollte. Bei den jungen Menschen konnte ich es mir dadurch erklären, dass sie arbeiten konnten." Doch die vielen Alten und Kranken? Was die Nationalsozialisten mit ihnen vorhaben, kann sich Zwarte-Walvisch nicht vorstellen, doch sie ahnt, dass hier "etwas Dreckiges, Verbrecherisches vor sich ging".

"Denke nicht, dass es sich nur noch um Wochen handelt"

Der Weitertransport aus der Sammelstelle ist zunächst sogar eine Erleichterung: "Alle waren guten Mutes und hoffnungsvoll gestimmt, weil wir davon ausgingen, dass wir da, wo wir hinfuhren, ein menschenwürdiges Dasein führen könnten. Aber wie groß war die Enttäuschung, die uns bevorstand." In den ersten Wochen nach der Ankunft im KZ glauben die meisten ihrer Mitgefangenen noch, dass sie bald wieder nach Hause können. Sie selbst denke aber nicht, "dass es sich nur noch um Wochen handelt", schreibt Zwarte-Walvisch.

Immer wieder schwanken die Tagebucheinträge zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Galgenhumor und Wut, schließlich Resignation: "Wir lassen alles kommen, wie es eben kommt, und werden jeden Tag gleichgültiger."

KZ Herzogenbusch
KZ HerzogenbuschWikimedia

Hilflos muss die 32-Jährige zusehen, wie Zwangsarbeit und mangelnde Versorgung immer mehr ihrer Mitgefangenen krank machen. "Babys schmolzen weg wie Schnee in der Sonne. Für Kinder unter zwei Jahren war Überleben unmöglich." In einem anderen Eintrag schildert sie, wie männliche Gefangene gezwungen werden, Chopin zu spielen, während ihre Frauen unter der Last von Steinen, die sie stundenlang von einem Haufen zu einem anderen schleppen müssen, zusammenbrechen. Dazwischen immer wieder kurze Momente, in denen etwas Licht durchschimmert: "So voller Energie und so voller Mut bei so viel bitterem Leid um uns herum", schreibt Zwarte-Walvisch über die Frauen, die zum Geburtstag der Lagerleiterin eine Revue aufführen. An jenem Abend habe sie "hin und wieder vergessen, dass wir Gefangene waren".

Am schlimmsten sind jene Tage, an denen Transporte Richtung Polen abgehen. Als alle Kinder unter 16 mit ihren Müttern "weggeschickt" werden, ohne die Väter, bricht Panik aus. "Männer warfen sich über den Tisch und schluchzten hemmungslos. Schluchzten wie kleine Kinder, weil sie gegenüber dem, was ihnen angetan wurde, so völlig machtlos waren." Ihren eigenen Mann darf Zwarte-Walvisch zunächst einmal pro Woche sehen, später wird er in ein Außenlager verlegt.

Tagebuch in Tasche eingenäht

Anfang Juli 1943 steht auch Zwarte-Walvischs Name auf einer der Transportlisten. Am 4. Juli kommt sie in Westerbork an, der Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager des Ostens. Kurz nach der Ankunft schreibt sie von der Furcht, dass bei der Durchsuchung ihr Tagebuch gefunden werden könnte, das sie in das Futter ihrer Tasche eingenäht hatte. Die Aufzeichnungen enden ausgerechnet mit erleichterten Worten: "Draußen standen die Bekannten, mit denen ich aus Vught gekommen war, und alle stürmten auf mich zu. Sie wussten, was ich in meiner Tasche versteckt hatte, und warteten voll ängstlicher Anspannung auf mich. Sie freuten sich für mich, dass alles so gut ausgegangen war."

Historiker haben rekonstruiert, dass es Zwarte-Walvisch kurz danach gelang, ihre Hefte durch den Stacheldraht an ihren Schwager Salomon de Zwarte zu reichen, der den Holocaust überlebte. Ihr Name steht auf der Transportliste vom 13. Juli. Keiner der 1988 Menschen auf dieser Liste überlebte, in Sobibór wurden sie direkt in die Gaskammer geschickt. Zwarte-Walvischs Mann wurde im März 1944 ermordet. Insgesamt wurden von den 140.000 Niederländern, die die Deutschen als Juden zählten, 102.000 deportiert. Nur knapp 5000 kamen nach dem Krieg zurück.

"Mein geheimes Tagebuch. März - Juli 1943" von Klaartje de Zwarte-Walvisch.

Mit einer Einführung von Ad van Liempt und einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Leon de Winter.

Verlag C.H. Beck

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