China: „Man muss Uiguren eine Lektion erteilen“

(c) Reuters (Nir Elias)
  • Drucken

Sicherheitskräfte in der Zwickmühle: Verhaften sie Han-Chinesen, protestiert die Mehrheit; gehen sie gegen Uiguren vor, werden sie als Rassisten beschimpft. Die Lage ist weiterhin dramatisch.

Dichter Nachmittagsverkehr fließt durch die „Nördliche Befreiungsstraße“ von Urumqi, eine moderne Geschäftsmeile mit Hochhäusern, Hotels, Fast-Food-Restaurants. Plötzlich ertönen wilde Schreie: Ein Mann läuft davon, verfolgt von Dutzenden Männern. Sie verschwinden in einer Seitenstraße, vorbei an einer Kette von Soldaten, die die Straße sperren.

Die Menge wird immer größer, Schaulustige finden sich ein, Geschäfte lassen die Rollläden herab. „Ein Uigure hat einen Han-Chinesen angegriffen“, heißt es. „Nein, ein Han-Chinese hat einen Uiguren getötet“, sagt ein anderer.

Das Geschrei der Menge wird immer lauter: Uniformierte führen zwei bullige Männer mit Handschellen gefesselt ab. Doch das erregt die Menschen nur noch mehr, denn die Verhafteten sind Han-Chinesen, keine Uiguren, die in dieser Gegend der Stadt als Bösewichter gelten.

Sofort wendet sich die Stimmung gegen die Polizisten: „Ihr seid Verräter an den Han-Chinesen!“, skandieren die Umstehenden, und: „Lasst sie frei!“ Fäuste werden geschwungen, jemand schwenkt eine kleine rote Nationalflagge. Als ein Polizeiwagen heranrollt, schlägt die aufgeheizte Menge mit den Fäusten auf das Autodach: „Lasst sie frei!“

Zorn auf die Sicherheitskräfte

Weitere Einheiten in Kampfanzügen, viele haben Gewehre, traben herbei. Ein Hubschrauber wirft Flugblätter ab. „Parteichef Wang Lequan sagt: Beruhigt euch. Geht nach Hause, geht zur Arbeit, geht zurück in eure Wohnviertel“, steht darauf.

Mittwochnachmittag in der Hauptstadt der Provinz Xinjiang: Der Vorfall zeigt, dass sich die Lage noch immer nicht beruhigt hat, nachdem am Sonntag schwere ethnische Unruhen ausgebrochen sind. Und er beweist, wie dramatisch die Lage ist. Denn der Konflikt zwischen Uiguren und zugewanderten Han-Chinesen droht, in Protesten gegen Regierung und Partei umzuschlagen.

Der Zorn darüber, dass Polizei und Armee die Uiguren schützen, wird immer größer. „Kann ja sein, dass die bei den Verhafteten einen Uiguren umbringen wollten“, sagt ein Passant. „Aber das ist verständlich, man muss den Uiguren eine Lektion erteilen. Die Regierung ist allerdings zu schwach dazu.“ So finden sich die Sicherheitskräfte in Urumqi plötzlich in einer Zwickmühle: Wenn sie Han-chinesische Täter festnehmen, rufen sie den Unmut der Mehrheit hervor. Gehen sie nur gegen Uiguren vor, riskieren sie den Vorwurf des Rassismus – und lösen womöglich neue Proteste aus.

Wie groß die Angst der Zentralregierung ist, dass der Funke von Xinjiang aus auch auf andere Regionen überspringt, zeigte gestern Präsident Hu Jintao mit seiner Entscheidung, vorzeitig den G8-Gipfel in Italien zu verlassen. Er muss jetzt alles tun, um keine Schwäche zu zeigen. Unermüdlich verkünden die Behörden, dass sie die Verantwortlichen für die Unruhen streng bestrafen werden.

„Harmonisches Xinjiang“

Noch immer ist nicht ganz klar, was genau am Sonntagabend geschah. Sicher ist, dass sich einer aus einigen Dutzend Studenten bestehenden Demonstration eine große Menge uigurischer Männer angeschlossen hat. Die Hochschüler wollten dagegen protestieren, dass die Behörden die Uiguren nicht über die wahren Hintergründe von Zusammenstößen zwischen uigurischen und Han-chinesischen Arbeitern in Südchina informiert hatten.

Die Polizei war schnell überwältigt – ein Massaker folgte, bei dem über 150 Menschen starben – Han-Chinesen ebenso wie Angehörige anderer Volksgruppen. Seither schlagen die Emotionen hoch. Nicht nur auf Märkten und Straßen, auch in mehreren Universitäten soll es zu Zusammenstößen zwischen uigurischen und Han-chinesischen Studenten gekommen sein.

Durch die Straßen kurven lange Militärkonvois. Auf ihren Planen stehen Parolen wie: „Errichten wir ein harmonisches Xinjiang.“ Lautsprecherwagen versuchen, die Menschen zu beruhigen. Hubschrauber knattern über Wohnviertel. Geschäfte haben geschlossen, auf den Bürgersteigen lagern Soldaten und warten auf den nächsten Einsatzbefehl.

Gerüchte verbreiten sich blitzschnell. Das Internet ist noch immer blockiert. In den Vierteln der Uiguren berichten die Bewohner weinend davon, dass sie von Han-Chinesen bedroht worden seien, die Polizei schütze sie nicht. Sie zeigen auf ihren Handys kurze Videofilme von verletzten Nachbarn.

„Können nicht darüber reden“

„Ich verstehe das alles nicht“, sagt eine junge Uigurin, die im Umweltamt arbeitet, ihren Namen aber aus Furcht vor der Polizei nicht nennen will. „Wir haben doch lange friedlich zusammengelebt. Bei mir im Büro vertragen sich alle Nationalitäten immer gut, wir sind Freunde.“

Eine uigurische Lehrerstudentin in der Pädagogischen Hochschule sagt von ihren Han-chinesischen Kommilitonen: „Alle sind traurig. Aber darüber sprechen, was geschehen ist, können wir nicht.“

AUF EINEN BLICK

Präsident Hu Jintao ist am Mittwoch wegen der Unruhen in Xinjiang überstürzt vom G8-Gipfel in Italien abgereist. Nie zuvor hat ein chinesischer Staatschef einen Auslandsbesuch auf diese Weise beendet. Die vorzeitige Heimreise zeigt aber auch, dass in der Volksrepublik China keine Entscheidung ohne den Präsidenten fällt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Polizeieinsatz in Urumqi: Zwei Uiguren getötet

Neue blutige Zwischenfälle in der chinesischen Unruheregion Xinjian. Die zentrale Rechtsbehörde in Peking legt unterdessen Anwälten nahe, im Zusammenhang mit den Unruhen keine Fälle zu übernehmen.
Außenpolitik

Uiguren-Führerin fordert US-Unterstützung

Die im Exil lebende Uiguren-Führerin Rebiya Kadeer fordert Washington auf, ein Konsulat in Xinjiang zu eröffnen. Eine Woche nach Beginn der Unruhen herrscht gespannte Ruhe in der Unruheregion.
Soldaten
Außenpolitik

Unruhen in Xinjiang: "Ohne uns wären sie nichts"

Pekings Strategie, mit wirtschaftlichem Aufschwung Harmonie zwischen Uiguren und Han-Chinesen zu erzwingen, ist gescheitert. Jetzt greift der Staat zu neuer Repression und verschärft damit den Konflikt.
Außenpolitik

Pekings neue Offenheit: „Glasnost à la chinoise“?

In der Xinjiang-Krise testet China eine neue Informationspolitik – fürs Ausland, nicht den Hausgebrauch.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.