Unter Protest von Hilfsorganisationen haben die Behörden begonnen, Teile des Flüchtlingslagers am Ärmelkanal abzureißen.
Calais. Die Arbeiter rückten mit einem Großaufgebot der Polizei an. Abgesichert von Dutzenden Beamten in Schutzausrüstung begannen sie, die selbst gezimmerten Hütten und Zelte aus Holzbrettern und Plastikplanen abzutragen. Auch zwei Bulldozer waren im Einsatz, um die ersten Behausungen in dem als „Dschungel von Calais“ bekannt gewordenen Flüchtlingslager im Norden Frankreichs abzureißen. Die gesamte Räumung soll einige Wochen dauern.
Schon allein das Polizeiaufgebot mit mehr als 30 Einsatzwagen zeugte von der Nervosität der Behörden. Trotz des Einspruchs von Hilfsorganisationen und Migranten hatte ein Gericht in Lille in der vergangenen Woche erlaubt, einen Teil des Slum-ähnlichen Lagers zu räumen. Entsprechend groß war die Befürchtung, dass es zu Protesten oder gar Ausschreitungen kommen könnte. Tatsächlich meldeten die Behörden am Nachmittag Zusammenstöße zwischen Flüchtlingen, Aktivisten und der Polizei. Eine Aktivistin der Organisation No Border, die sich für die Abschaffung der Grenzen einsetzt, sei festgenommen worden.
In dem Lager nahe dem Hafen am Ärmelkanal haben Tausende Migranten ihr Quartier aufgeschlagen – in der Hoffnung, irgendwann über Fähren oder den Weg durch den Eurotunnel Großbritannien zu erreichen. Seit Langem schon gibt es deshalb Spannungen mit den Bewohnern von Calais; immer wieder kam es außerdem zu Zwischenfällen auf Fähren und im Eurotunnel. Die Schätzungen, wie viele Menschen in den Baracken hausen, schwanken zwischen 3700 und 7000 Flüchtlingen. Von der Räumung sollen laut Behörden bis zu 1000 Menschen betroffen sein; Hilfsorganisationen sprechen von etwa 3500. Die meisten Betroffenen sollen nun in Aufnahmezentren in anderen Landesteilen außerhalb von Calais gebracht werden. Die französischen Behörden haben angekündigt, sie dort beim Asylverfahren zu begleiten. „Wir haben eine Lösung für jeden“, sagte etwa die Präfektin Fabienne Buccio. Bei vielen Flüchtlingen stoßen diese Aussagen jedoch auf taube Ohren: Die meisten wollten in Frankreich gar kein Asyl beantragen, sagen Helfer. Deshalb wollten sie Calais auch nicht verlassen – um sich nicht die Chance zu nehmen, doch irgendwann nach Großbritannien zu gelangen.
Hilfsorganisation befürchten, dass die Menschen nach der Räumung nun auf andere Orte ausweichen, wo die Lebensbedingungen noch schlechter sind. Erst vor Kurzem war neben dem „Dschungel“ zwar ein Containerlager für Flüchtlinge erstellt worden. Dort sind aber kaum mehr Plätze frei. „Es werden viele kleine ,Dschungel‘ entstehen“, zitierte das französische Fernsehen vor wenigen Tagen eine Mitarbeiterin der örtlichen Organisation L'Auberge des Migrants. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Vergangenheit: Mehrfach schon waren Lager in der Gegend geräumt worden, immer wieder entstand ein neuer „Dschungel“.
Das ganze Lager soll verschwinden
Die Lage in Calais ist zum Symbol für die Schwierigkeiten Frankreichs im Umgang mit der Flüchtlingskrise geworden. Mit der Räumung will die Regierung Handlungsfähigkeit beweisen. Mittelfristig soll das gesamte Lager verschwinden. Das Vorgehen hat in Belgien Befürchtungen ausgelöst, zum Ziel Tausender Migranten zu werden und bald mit ähnlichen Lagern konfrontiert zu sein. Das Land hat deshalb bereits die Grenzkontrollen zu Frankreich verschärft – ein Schritt, der sowohl von Paris als auch vonseiten der EU-Kommission kritisiert wurde. (red./ag.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2016)